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"Thomas Bernhard mag ich sehr. Ein großer Autor seiner Zeit, mit einer Energie, die weit trägt. Wie er sich über alles und jedes beklagt, das ist zudem amüsant": Michel Houellebecq.

Foto: APA/Guenter R. Artinger

Jed Martin, die Hauptfigur in Michel Houellebecqs neuem Roman Karte und Gebiet (DuMont) ist Künstler. Er malt Straßenkarten und Porträts bekannter Personen. Für das Vorwort eines Buches bittet er den Schriftsteller Michel Houellebecq um einen Beitrag. Außerdem pflegt er eine Beziehung zur Russin Olga und besucht ab und zu seinen sterbenden Vater. Nach der Ermordung Houellebecqs hilft er dem Kommissar bei der Suche nach dem Mörder. Jahre später zieht er sich aufs Land zurück und verstummt.

STANDARD: Herr Houellebecq, erfreut, Sie an einem Stück anzutreffen!

Houellebecq: Freut mich auch.

STANDARD:  Wie ist es, in einem Roman über sich selbst zu schreiben und seine eigene Ermordung mit blutiger Zerstückelung zu beschreiben

Houellebecq: Das ist ziemlich leicht. Es bietet auch keine besondere Schwierigkeit, sich seinen Tod bildhaft vorzustellen.

STANDARD: Früher trug eine ihrer Figuren schon ihren Vornamen; jetzt tauchen Sie gleich als der Schriftsteller Michel Houellebecq auf.

Houellebecq: Das ist eine Romanfigur wie jede andere, nicht einmal die Hauptperson.

STANDARD: Gerade freundlich gehen Sie mit sich nicht um. Unter anderem beschreiben Sie sich als Einzelgänger voller Menschenverachtung, der "ein bisschen stank".

Houellebecq: Ein paar gute Dinge sage ich auch von mir, sonst klänge das Ganze unglaubwürdig. Aber die in dem Buch beschriebene Person ist nun einmal eine Darstellung, zu der ich das gleiche Verhältnis haben wie zu jemandem, den ich vom Fernsehen oder seinen Büchern kenne.

STANDARD: Gerade die Selbstbeschreibungen reizen oft zum Lachen. Franzosen nehmen sich nicht gern auf die Schippe, Sie hingegen schon. Vielleicht, weil Sie mehrheitlich in Irland und Andalusien leben?

Houellebecq: Keine Ahnung. Humor ist für mich keine Leistung, und wenn, dann besteht er oft darin, sich über sich selbst lustig zu machen. Das erfolgt bei mir nicht sehr überlegt.

STANDARD: Amüsieren Sie sich gelegentlich beim Schreiben?

Houellebecq: Ja, wenn mir etwas Lustiges einfällt. Auch wenn das beim Durchlesen nicht anhält. Wenn man einen Scherz zum zehnten Mal liest, lacht man nicht mehr. Dann muss man vielmehr aufpassen, dass man die Stelle nicht wieder streicht. Man muss als Autor noch spüren, was zum Lachen bringt, auch wenn man längst nicht mehr lacht.

STANDARD: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Ihrem neusten Roman haftet etwas Trostloses an. Frankreich beschreiben Sie in einer nahen Zukunft als eine Art museales Disneyland, wo reiche Russen und Chinesen noch Tourismus - auch Sexualtourismus - betreiben oder sich auf dem Land niederlassen.

Houellebecq: So sehe ich nun mal die Entwicklung voraus. Frankreich wird nicht mehr produzieren, sondern zur Tourismusdestination. Die Franzosen werden sich zunehmend aufs Land begeben, da sich die Wohnbedingungen in den Grossstädten ständig verschlechtern. In Paris zwängen sich Familien heute zu Horrorpreisen in winzige Wohnungen:

STANDARD: Die Landbewohner sind bei Ihnen "ungastlich, aggressiv und dumm".

Houellebecq: In meiner Zukunftsvision werden sie aber liebenswürdig, um die wohlhabenden Städter und Touristen zu empfangen und bewirten. Und wenn man eine solche Rolle spielen muss, nimmt man sie schliesslich an.

STANDARD: Das einzige Wort, das die Hauptfigur Jed während eines Monates sagt, ist das "Nein" auf die mechanische Frage der Supermarktkassiererin, ob er eine Kundenkarte habe.

Houellebecq: Ja.

STANDARD: Schmerzlich auch die Kommunikation mit seinem Vater, bevor dieser Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Die Sterbehilfe-Organisation Dignitas ist ganz offensichtlich nicht Ihr Fall: Im Buch versetzt Jed einer Verantwortlichen der Organisation einen Kinnhaken.

Houellebecq: Stimmt, das ist eine ziemlich gelungene Szene in meinem Buch.

STANDARD: Warum sind Sie gegen Sterbehilfe?

Houellebecq: Ganz einfach, weil das Mord ist. Das kann man leider nicht anders nennen: Beihilfe zum Selbstmord ist eine Art von Mord.

STANDARD: Dignitas ging gerichtlich - wenn gleich erfolglos - gegen die Buchpassagen vor. Was antworten Sie?

Houellebecq: Nichts. Ich bin gegen Dignitas, weil Sterbehilfe Mord ist, das ist alles. Ich will nicht gegen sie argumentieren, ich will sie bekämpfen.

STANDARD: Waren Sie für die Recherchen in Zürich bei Dignitas?

Houellebecq: Ich wollte an sich hinfahren, habe es dann aber sein lassen. Als ich das Kapitel zur Euthanasie fertig hatte, war ich zufrieden damit. Ich wusste, dass ich es verändern würde, wenn ich hinreisen würde, also liess ich es sein. Ich schaute auf Google Maps nach, wo genau Dignitas liegt. In der gleichen Strasse stiess ich übrigens auf ein Bordell, dessen Name ich übernehmen konnte. Das hat mir gefallen.

STANDARD: Wobei Sie nicht verhehlen, dass die Angaben aus dem Internet stammen. Sie übernehmen ganze Wikipedia-Einträge. Es sind keine Plagiate, da Sie dazu stehen. Handelt es sich eher um eine zeitgenössische Form des Schreibprozesses?

Houellebecq: Zeitgenössisch? Lautréamont machte das schon im 19. Jahrhundert, später auch Perec oder Danilo Kis. Wenn Sie eine Mücke beschreiben wollen und in einem alten Nachschlagewerk oder Wikipedia suchen, finden Sie in etwa dieselben Informationen.

STANDARD: Doch rührt die Hyperpräzision, mit der Sie sogar den Preis eines Flugtickets von Ryanair angeben, nicht auch vom modernen Hypertext und dem Copy-Paste?

Houellebecq: Vielleicht - wobei zu sagen ist, dass ich ab und zu auch eigene Informationen erfinde, wenn mir der entsprechende Wikipedia-Eintrag nicht zusagt. Das war etwa der Fall bei den Angaben zu Jean-Pierre Pernault (einem in "Karte und Gebiet" prominent erwähnten Tagesschausprecher in Frankreich, die Red.).

STANDARD: Spielen Sie bewusst mit diesen Bruchstellen zwischen den Wikipedia- und den literarischen Passagen Ihres Romans?

Houellebecq: Nein, das ergibt sich einfach so. Ich mag solche Stellen, aber ich will sie auch nicht übertreiben. Manchmal versuche ich, Sätze aus Gebrauchsanweisungen einzubauen, doch das ist schwierig. Von der kroatischen Insel Hvar (die im Buch vorkommt, die Red.) habe ich hingegen Fremdenverkehrsangaben auf Internet gefunden, die ich verwenden konnte.

STANDARD: Wozu dienen diese "Wikipassagen" in Ihrem Buch?

Houellebecq: Solche Stilbrüche sind manchmal ganz nützlich, um die Dinge ein wenig zu vermengen und eine gewisse Distanzierung, Verwirrung herzustellen.

STANDARD: Und warum geben Sie zum Beispiel bis auf den Centime an, was der Ryanairflug zum Shannon Airport kostet?

Houellebecq: Der Preis ist auf jeden Fall nicht mehr sehr glaubwürdig, heute kostet das Ticket bedeutend mehr.

STANDARD: Altern Ihre Romane schneller als andere? Einzelne der von Ihnen genannten Prominenten dürften nicht gerade in die Geschichte eingehen.

Houellebecq: Gerade deshalb nehme ich sie in das Buch auf! Ein Roman muss altern. Er spielt zu einer gegebenen Zeit, an einem bestimmten Ort. Er ist keine Poesie, sondern handelt vom Zustand der Welt. Eines der grossen Vergnügen beim Lesen besteht doch darin, in eine bestimmte Zeit einzutauchen. Wenn ich Balzac lese, freue ich mich auch, wenn er Zeitgenossen porträtiert. Und wenn ich einen Roman aus dem Jahr 1907 lese, will ich wissen, ob er in Russland oder Deutschland spielt. Ich erwähnte die Personen nicht um ihrer willen, sondern gebe sie für heutige oder zukünftige Leser wieder.

STANDARD: Anders als Balzac nennen Sie ihre Namen. Sie mögen das Name-Dropping geradezu: Kate Moss, George Clooney, Jeff Koons, Angelina Jolie, Silvio Berlusconi, um nur ein paar zu nennen. Warum nicht Sarkozy?

Houellebecq: Da bot sich wohl kein Anlass. Politiker erwähne ich ohnehin ungern.

STANDARD: Die interessieren Sie weniger?

Houellebecq: Ich finde, die sind für ihre Zeit weniger repräsentativ als Schauspieler und Künstler. Mir kommen sie einfach weniger in den Sinn. Berlusconi erwähnte ich auch nur wegen seines Streifenanzugs.

STANDARD: Ich dachte an den Rolex-Träger Sarkozy, als Sie das legendäre Uhrmodell Oyster Perpetual Day-Date erwähnen.

Houellebecq: Rolex existiert bedeutend länger als Sarkozy! Ich habe diese Uhrenmarke erwähnt, weil sie gut klingt, weil sie ein Luxusobjekt ist. Damit verbinde ich das Image der Schweiz, Dauerhaftigkeit, Fortbestand. Diese Uhr hält lange, und ich habe ihr charakteristischstes Modell zitiert, weil es am ehesten an die Perfektion und Zuverlässigkeit einer idealen Uhr heranreicht. Aber gut...

STANDARD: Tragen Sie eine Rolex?

Houellebecq: Bisweilen, aber nicht jetzt.

STANDARD: Tragen Sie auch Swatch?

Houellebecq: Das nicht.

STANDARD: Lieben Sie den Luxus?

Houellebecq: Das interessiert mich nicht.

STANDARD: Stimmt, Sie benützen ja auch Ryanair...

Houellebecq: Aber nicht, weil es billig ist.

STANDARD: Zwischen Irland und Paris wäre doch ein Privatjet ganz praktisch.

Houellebecq: Das ist sehr teuer. Zu teuer für mich.

STANDARD: Haben Sie sich erkundigt?

Houellebecq: Ja, aber vor allem, weil ich viel rauche. Das erschwert das Fliegen sehr.

STANDARD: Unschwer zu erraten ist, dass Sie Landkarten mögen. In Ihrem Buch sagen Sie, die seien interessanter als das jeweils abgebildete Gebiet. Wirklich?

Houellebecq: Ich habe eine Leidenschaft für Landkarten. Die sind pittoresk, poetisch... (zündet sich die dritte Zigarette seit Gesprächsbeginn an.)

STANDARD: Sogar Michelin-Karten?

Houellebecq: Vor allem Michelin-Karten! Das sind die schönsten. Heute sind sie noch besser, noch schöner.

STANDARD: Die Vorstellung ist für Sie also wichtiger als die Realität. So denken viele Romanciers - doch ist das auch für Sie als Aktualitätsbeschreiber noch so, da sich die Aktualität beschleunigt und intensiviert - mit 9/11, Tsunamis, Obama. Kann eine gegenwartsbezogene Literatur wie Ihre da noch mithalten?

Houellebecq: Absolut.

STANDARD: Sie, der sicherlich viel Zeitung liest...

Houellebecq: Ich lese fast nie Zeitung.

STANDARD: ...was halten Sie denn vom "arabischen Frühling"?

Houellebecq: Nichts. Ehrlich gesagt ist mir das ein wenig egal.

STANDARD: Aber Sie, der gerne auf dem Islam herumhackt, müssen doch feststellen, dass junge Araber das Gleiche wollen wie junge Europäer - Demokratie, Freiheit, Wohlstandsverteilung.

Houellebecq: Wenn die Leute genug haben von ihren Machthabern, von der Korruption, müssen sie etwas tun, um das zu ändern. In einigen Ländern würden oder werden sie vielleicht islamistische Parteien wählen. Dann werden sie ja sehen.

STANDARD: Was denken Sie als ausgebildeter Ingenieur (Bereich Agronomie) über das nukleare Desaster in Japan?

Houellebecq: Die Japaner enttäuschen mich ein wenig. Bei Tschernobyl musste man mit einem Unfall rechnen. Aber in Japan ist das doch erstaunlich.

STANDARD: Jetzt müssen die Japaner die französischen Atomtechnologen zu Hilfe rufen.

Houellebecq: Ja, scheint so.

STANDARD: In Ihrem Buch ist der Tod, auch der Niedergang omnipräsent. Denken Sie, dass die Technik unser Verderben sein wird?

Houellebecq: Nicht unbedingt. Ich bin weiterhin für die Technik und die Atomkraft. Ich stehe der Umweltbewegung nicht sehr nahe.

STANDARD: Überhaupt nicht! Vor wenigen Tagen haben Sie die Grünen in Israel als "Kollabos" (Anm. d. Red.: französischer Ausdruck für ehemalige Nazi-Kollaborateure) beschimpft. Eine neue Houellebecq-Provokation?

Houellebecq: In Israel wirkte das gar nicht wie eine Provokation. Dort denkt man, dass alle Europäer gegen die Israelis seien, was in meinem Fall nicht stimmt. Die Grünen sind hingegen schon antiisraelisch.

STANDARD: Den Islam und die Moslems provozieren Sie aber gerne.

Houellebecq: Jede Religion organisiert das Zusammenleben, und der Islam besonders wirkungsvoll. Darum kommt er auf eine viel höhere Geburtenrate als Europa oder Japan. Ich sage nur, wie die Dinge liegen, und was ich von ihnen halte, ohne die Provokation zu suchen. Ich denke, mein Image als Provokateur ist überzeichnet.

STANDARD: Stimmt, in Ihrem Buch schreiben Sie nur noch über den Hintern von Afrikanerinnen beim Gebet oder den Aufpreis für Analverkehr bei Prostituierten. Neuerdings nennen Sie sie Escort Girls...

Houellebecq: Die gibt es in Ländern wie Frankreich, wo die Prostitution verboten ist, im Unterschied etwa zu Deutschland, wo es noch Bordelle gibt. In Paris arbeiten sie mit Telefon und Internet. Das mag ich eher. In dem Buch geht es dem Escort Girl auch gut.

STANDARD: Hat die Prostitution also auch gute Seiten?

Houellebecq: Nur gute. Zum Glück gibt es sie.

STANDARD: Sie haben für Ihr neustes Buch den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Goncourt, erhalten. Eine Ehrung für den Bürgerschreck?

Houellebecq: Ich sehe darin durchaus eine Bestätigung und eine Ehrung. Dazu eine Orientierungshilfe für Leute, die nur ein Buch im Jahr kaufen, aber trotzdem wissen wollen, was heute so geschrieben wird. Insofern hat der Goncourt auch eine soziale Rolle. Ich habe früher auch preisgekrönte Bücher gekauft, um mich über die zeitgenössische französische Literatur auf dem Laufenden zu halten.

STANDARD: Sartre hatte den Nobelpreis zurückgewiesen.

Houellebecq: Dazu muss man einen Grund haben. Ich frage mich, welchen Sartre hatte. Erinnern Sie sich?

STANDARD: Nicht genau, ich glaube, es hatte was mit seiner Stellung als Marxist und der Zurückweisung westlicher Symbole in Zeiten des Kalten Kriegs zu tun.

Houellebecq: Ich bin nicht Marxist. Ich habe schon mehrere - ich glaube deren fünf - Preise erhalten und nie einen zurückgewiesen.

STANDARD: Sogar die Kritiken Ihres Buches sind eher positiv. Ist das nicht ärgerlich für einen Autoren, der die Medien verabscheut?

Houellebecq: In Wirklichkeit hat sich in der Einstellung der Journalisten zu mir nicht viel verändert. Es gab in den Redaktionen schon immer welche, die meine Bücher mochten, und andere, die sie zerrissen. Jetzt haben die zuständigen Chefs "Karte und Gebiet" wohl eher den Wohlgesinnten zum Rezensieren gegeben. Warum, weiss ich auch nicht.

STANDARD: In einem Dialogbuch mit Bernhard-Henri Lévy haben Sie 2008 bekannt, dass Sie an Ihrer Rolle schwer trügen. Ist es hart, ein Enfant Terrible zu sein?

Houellebecq: Das ist es. Vor allem wegen der ständigen Angriffe auf meine Privatsphäre. Was mich ermüdet hat, war zum Beispiel der Bericht, dass ich zusammen mit zwei anderen bekannten Franzosen, darunter der Politiker David Douillet, über Bankkonten in Liechtenstein verfüge. Ich glaube, die zogen die Namen wie beim Lotto aus dem Hut. Douillet klagte vor Gericht (und gewann). Ich war zu müde dazu.

STANDARD: Die österreichische Literatur kennt auch ihre Querschläger. Lesen Sie Elfriede Jelinek, oder Thomas Bernhard?

Houellebecq: Bernhard mag ich sehr. Ein grosser Autor seiner Zeit, mit einer Energie, die weit trägt. Wie er sich über alles und jedes beklagt, das ist zudem amüsant.

STANDARD: Eine obligate letzte Frage - warum schreiben Sie?

Houellebecq: Sagen wir, es beruhigt. (Stefan Brändle, DER STANDARD - Printausgabe/Online-Langfassung, 13. April 2011)