Fast will es so scheinen, als hätten Revolutionen und Liederabende neuerdings etwas gemeinsam. Wenn sie angesagt sind, finden sie nicht statt.

Das ist in beiden Fällen nicht immer sonderlich beweinenswert. Im Falle des Liederabends, den Thomas Hampson gestern in Europas Kulturhauptstadt hätte singen sollen und nun auf den 5. November verschoben hat, liegen die Dinge allerdings (ausnahmsweise im wahren Sinn des Wortes) gehörig anders:

Hampsons Auftritt wäre nämlich beides gewesen, ein Liederabend und gleichzeitig auch eine Revolte. Wenn auch eine sehr noble und sicher eine meisterliche.

Mit dem Programm, das er eigens für diesen Grazer Abend studierte, hätte er nämlich den Beweis erbracht, dass es in der MurMetropole auch schon in deren finsteren präinsularen Zeiten Leute gab, die nicht nur Noten lesen, sondern auch ganz gut aneinander fügen konnten, was man im Volksmund komponieren nennt. Und dass auch sie jene Aura der Weltoffenheit schufen, deretwegen die steirische Hauptstadt nun ein Jahr lang das spielen darf, was sie in Ansätzen ja immer schon war.

Dazu braucht einem nicht nur der zu solchen Gelegenheiten reflexartig bemühte Hugo Wolf einzufallen. Und wenn schon, sollte man im Zusammenhang mit ihm an Friedrich von Hausegger (1837-1899) denken.

Hausegger war nicht nur der Begründer der musikwissenschaftlichen Disziplin an der Grazer Universität, durch ihn wurde Graz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum des spätromantischen Musikdiskurses. Mit seinen Schriften (Musik als Sprache und Vom Jenseits der Musik) lieferte er den so genannten "Neudeutschen" in der Nachfolge von Richard Wagner und Franz Liszt (Richard Strauss, Max von Schillings) das theoretische Fundament.

Kein Wunder, dass Hugo Wolf ihn in Graz aufsuchte, um sich in Gesprächen mit Hausegger für seine Attacken, die er in Wien gegen Eduard Hanslick und Johannes Brahms ritt, theoretisch aufzumunitionieren.

Auch für Wilhelm Kienzl (1857-1941) war Hausegger der Magnet, der ihn bewog, nach der erfolgreichen Uraufführung seines Evangelimann nach Graz zu übersiedeln. Freilich ist mir vollkommen bewusst, dass jeder, der sich heute untersteht, den Namen Wilhelm Kienzl in den Mund zu nehmen - oder gar den Titel der eben erwähnten Oper -, in aufgeklärten kulturhauptstädtischen Kreisen ein für alle Mal erledigt ist.

Und trotzdem gibt es Verwerflicheres, was die neue Elite wahrscheinlich noch weniger goutiert: die Erwähnung des Namens Joseph Marx. Das ist freilich das Schlimmste. Da versteht ein aufrechter Grazer Musikfreund keinen Spaß.

Umso mutiger, dass sich Thomas Hampson wagt, Lieder dieser beiden Verfemten in sein Programm aufzunehmen.(DER STANDARD; Printausgabe, 17.05.2003)