Philipp Blom, "Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung". € 25,60 / 400 Seiten. Hanser, München 2011

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Große Umwälzungen haben ihre Säulenheiligen, und die müssen nachher ins Konzept passen. Ein Vordenker wie Rousseau passte zu der Herrschaft, die die Sieger der französischen Revolution antraten. Seine Vermischung von Staatsräson, Autoritätshörigkeit und einfachem Leben fügte sich in Robespierres Praxis, machte ihn zu dessen Idol und überdauerte ihn: In der Sicht der Nachgeborenen wurde Rousseau neben Voltaire zum großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts stilisiert. Die nachrevolutionäre Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft störten sie ebenso wenig wie Kant.

Neben ihnen, aber eben nicht auf der Siegerseite, gab es eine andere Strömung, die sich auch im klerikal monarchischen Frankreich politisch äußerte. Doch darüber hinaus hatte sie, wie Philipp Blom schreibt, eine sanftere, menschenfreundliche Stimme, "die dazu ermutigt, die Freude am eigenen Leben zu entdecken und zu kultivieren und sie auch anderen zugänglich zu machen". Dieser Gruppe von Denkern wieder den gebührenden Platz in der europäischen Ideengeschichte zu geben, ist Blom angetreten. Das Ergebnis ist eine Ehrenrettung der Protagonisten kritischen Denkens, eine Analyse der Wurzeln der Aufklärung bis zurück zur griechischen Philosophie und mit Auswirkungen bis in die Gegenwart, ein Sittenbild des vorrevolutionären Paris (mit Ausflügen nach London, Sankt Petersburg und Leiden), ein engagiertes Plädoyer - und eine äußerst spannende Lektüre.

Die neugierigen Fragen eines jungen Zuhörers sollen den vortragenden Historiker Blom vor einigen Jahren dazu angeregt haben, die "bösen Philosophen" wiederzuentdecken. Eine "wicked company" war das, wie der Autor das (von ihm selbst ins Deutsche übertragene) englische Original betitelt hat, eine böse, schlimme, schelmische, sogar verruchte Gesellschaft: Das trifft den schillernden Charakter des Salons, den Blom uns als Zentrum einer zwischen besten Verbindungen und gefährlichem Untergrund lavierenden Gruppe von Freunden vorstellt. Ungeduldig wollten sie die seit mehr als 1000 Jahren von der Theologie dominierte abendländische Ideengeschichte auf neue, vernünftige Beine stellen. Empiriker und Naturwissenschafter waren die von ihnen hochgehaltenen Vorläufer: Galilei, Descartes, Newton. Nicht von Dogmen, sondern von Erfahrung und einer vorurteilsfreien Betrachtung der menschlichen Bedürfnisse sollte ihr Denken bestimmt sein.

Mit dem Alter nicht milder

Sie trafen sich vor allem im Palais von Paul-Henri Thiry d'Holbach, einem aus der Pfalz stammenden, seit der Kindheit in Frankreich lebenden Baron. Ab 1750 und bis in die Achtzigerjahre lud Holbach regelmäßig zu Abendessen und Diskussionen ein. Was man heute als kostbare "facetime" wahrnimmt, war auch damals Voraussetzung für produktives Denken: im Dialog, im Austausch mit neuen Gesichtern, geistigen Sparring-Partnern, ohne Angst vor Spitzeln und Zensoren.

Diderot war der heute wohl bekannteste Name unter den Gästen. Teils gemeinsam mit dem Mathematiker d'Alembert gab er die große Encyclopédie heraus, die sowohl von den Debatten im Salon beeinflusst wurde wie ihrerseits die Philosophen anregte. Er zählte zum radikalen Flügel der Runde, seine Ansichten über Gott und die von Adel und Klerus beherrschte Welt wurden auch mit dem Alter nicht milder. Blom lässt seinen Lebenslauf und jene seiner zeitweiligen Bundesgenossen und Gegner faszinierend Revue passieren. Vor allem dem gegenüber der Holbach'schen "Clique" misstrauischen Rousseau und dem immer vorsichtiger lavierenden Voltaire widmet er sich als Antipoden zum Salon. Sie kommen bei ihm nicht gut weg. Zugleich zeigt er, wie ihre Schachzüge zur Steigerung des intellektuellen Marktwerts Erfolge zeitigen. Dabei verfällt er weder in den Jargon eines abstrakten Ideenpanoramas noch in modische Psycho-History. Leichtfüßig und doch präzise verschränkt er vielmehr individuelle Lebensläufe mit den drängenden zeitgenössischen Strömungen. Wie schon im Taumelnden Kontinent, seinem großen Buch über Europa vor dem Ersten Weltkrieg, präsentiert er eine Geschichtsperiode aus der Innensicht, ohne seine eigene Perspektive zu negieren (ein Bekenntnis zur Aufklärung auch und gerade heute, wie er es unlängst im ALBUM abgegeben hat).

Blom rekonstruiert ein immer stärker aufgeladenes Szenario konkurrierender Entwürfe dessen, was ein gutes Leben ausmachen soll. Leidenschaften, nicht Leiden: So könnte das von Diderot adaptierte Motto lauten, unter das er die Bösen Philosophen stellt. Wie weit der Gegensatz zurückreicht, das verfolgt der Historiker wie nebenbei, es ist aber von zentraler Bedeutung - dass nämlich nicht nur die ersten Gehversuche der neuzeitlichen Naturwissenschafter die Aufklärer ermutigten, sondern die (Wieder-)Entdeckung viel älterer Quellen. Lukrez vor allem, von dem zwar nur ein Werk überliefert ist, das aber vieles enthält, was die Franzosen begeisterte, "ein materialistisches Manifest", wie Blom schreibt, "aber auch ein großes, ekstatisches Gedicht, das die Schön-heit der Natur und die Wunder der Welt preist". Lukrez wiederum bezieht sich auf Epikur, den bis heute missverstandenen griechischen Denker. Nicht Völlerei war dessen Ziel, sondern intelligentes Maßhalten und - Wasser auf die Mühlen von Holbachs Tafelrunde - sich nicht weiter um etwas zu kümmern, worüber man nicht vernünftig reden kann: Götter zum Beispiel.

Solchermaßen gerüstet, erarbeiteten die Salon-Denker, wie Blom zeigt, kluge und prophetische Positionen. Das Festhalten an einer "höheren Intelligenz" (siehe auch "intelligent design") führten sie ad absurdum. Zwar eine Männerpartie, gehörten sie in den Augen des Autors dennoch zu einer Art Avantgarde des Feminismus. Die Vorstellung, dass die Information über den menschlichen Organismus in feinsten Fäden enthalten ist, nahm in erstaunlicher Weise unser Wissen über DNA vorweg. Den eingebläuten Glauben sahen sie als Mittel, um Menschen zahm und unterwürfig zu machen - eine Analyse des "autoritären Charakters" 200 Jahre früher. Noch Nietzsche, Freud und die Sprachphilosophen profitierten von der Lektüre der Aufklärer jenseits des simplistischen Aufrufs "Zurück zur Natur!"

Was noch auffällt, aber sich zu keinem Erzählstrang verdichtet, sind die vielfachen Bezüge auf eine asiatisch anmutende Haltung der Gleich-Gültigkeit, eine Abkehr von der Welt. Tatsächlich könnte hier ein relativ kurzer gedanklicher Weg von den Stoikern bis zum Buddha führen. Doch dieser Weg dürfte nie ganz freigeschaufelt worden sein.

Natürlich beruht Bloms Arbeit auf vielen veröffentlichten Darstellungen, die er ausführlich kommentiert und empfiehlt. Ungemindert ist sein Verdienst, eine entscheidende Phase der europäischen Geschichte zu neuem Leben erweckt zu haben. Nun arbeitet er an an einem weiteren wichtigen Kapitel, der Zwischenkriegszeit. Eine schöne Vorstellung: noch mehr solche Bände von Philipp Blom über spannende Zeiten in Europa, als Nachschlageschatz im Regal. Und noch mehr solche schönen Sätze wie jener über einen ehemals revolutionär denkenden Gast bei Holbach, der seine Vergangenheit verleugnet (solche gibt es ja zu allen Zeiten): "So gab er vor, er habe zwar damals die Luft der Freiheit geatmet, aber nicht inhaliert." (Michael Freund/ DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.5.2011)