Peter Waterhouse, "Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium maximum". € 22,- / 221 Seiten. Jung und Jung, 2010

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Als Peter Waterhouse, der diesjährige Träger des Ernst-Jandl-Preises, im November 2002 in der Alten Schmiede eine einmonatige Veranstaltungsreihe unter dem Titel Übersetzung und Geheime Dienste in Gang setzte, konnte niemand ahnen, dass diese auf den ersten Blick so verblüffend wie willkürlich wirkende Kombination von Tiefenstrukturen der Sprache und der Politik das zentrale Thema seines im Jahr 2006 veröffentlichten, an die siebenhundert Seiten umfassenden Kapitalwerks (Krieg und Welt) bilden werde.

Dieses für eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Literatur, aber auch für das Verständnis von Wahrnehmungs- und Empfindungszuständen in den Bedingungen gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Verfasstheit eminent wichtige und fruchtbare Spannungsverhältnis bestimmt weiterhin das forschende Denken des Autors und lässt sich unschwer auch als Kern seines nachgefolgten Werkes Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium maximum erkennen.

Vor dem Hintergrund der sogar dem veröffentlichten Bewusstsein nicht mehr verborgen bleibenden Radikalisierung der Beziehungen zwischen den Menschen wirkt die Koppelung eines scheinbaren Idylls aus fernen Zeiten der Gottkaiserschaft mit dem von der Ordnungsmacht geräumten Ort jugendlichen Gestaltungsanspruchs hierzulande unserer Lebenswirklichkeit näher, als es im ersten Augenblick scheinen mag.

Waterhouse formuliert sein neues Buch als Einladung, ihn bei seinen Streifzügen durch Lebensgegenwart und literarische Geschichte zu begleiten und mit ihm seine Untersuchungen der menschlichen Ausdrucksformen zu vertiefen. Das spiegelt ein teilnehmend-demokratisches Verständnis von Literatur wider, "defenetiv" - den gehobenen Zungenschlag des Wiener Kleinbürgertums schnappt er in einer transdanubischen Einkaufswüste auf - anders, als einer Leserschaft fertige Ergebnisse und nacherzählbare "Stories" vorzusetzen und die Welt zu erklären.

Wiederholtes, manchmal kalauerhaft, manchmal närrisch anmutendes Fragen ist der Schlüssel dieser Art von Welterkundung, und im Fortgang des Untersuchungsberichts wird offenbar, wie stetes Wiederholen und Variieren der Fragen zur analytischen Schärfe führt. Denn nur Beharrlichkeit entlockt den Verhältnissen die Vielzahl der in ihnen angelegten Möglichkeiten, bringt das Verborgene einer Redewendung zum Vorschein, kommt dem in den Dingen und Wesen steckenden Geheimnis nahe.

Waterhouse werkt als Archäologe der Wörter, als Tiefenpsychologe der Sätze und als Komödiant des Zufalls, indem er Unauffälligem, nebensächlich Scheinendem mit derselben Neugier und demselben ernsthaften Witz nachspürt wie öffentlich Registriertem und Klassifiziertem, bereits fertig Gemachtem, zur Nachricht Gebrachtem. Gerade in diesem entdeckt er "das Unberichtete", hält dem "Gedachten das Denkende, dem Gewohnten das Wohnende" entgegen.

Der Autor bewegt sich wie ein absichtsloser Protokollant in den Zentren und in den Peripherien unserer Lebensbezirke. Er kommt dem planlosen Treiben der Obdachlosen, die mit dem Abriss des Wiener Südbahnhofs eine ihrer provisorischen Zufluchtsstätten verloren und im Auditorium maximum der Wiener Universität eine andere vorübergehend gefunden haben, ebenso nahe wie der Ratlosigkeit einer internationalen Zukunftskonferenz über die "Gefahren der schlechten Luft, der verpesteten Meere, Hitze und Stürme", die zur Rettung der Welt das althergebrachte Phantasma einer Weltregierung, heute "global governance" genannt, entwirft, dem er die Idee einer Rettung durch "Erfolglosigkeit" entgegensetzt.

Trost der Schönheit

Er registriert das Geschehen des Herbstes 2009 im von Studentinnen und Studenten besetzten großen Hörsaal, gerät beim Entziffern des Buchstabenfalls der Handschrift eines Malerfreundes in Gedanken bis an die Grenze zur Ewigkeit, er wendet und durchteilt immer wieder weltberühmte Sätze aus Shakespeares Theaterstück Hamlet und Verse aus Shakespeares Sonetten, hört einen Wissenschafter und einen Dirigenten über den Trost der Schönheit in der Trauer sprechen, besucht ein von jungen Menschen genehmigungslos verwendetes Schulhaus an einer Wiener Stadtausfahrt, denkt an den Tod als ein "Ende, welches Anfang und Datum der Wahrheit und Schönheit ist und welches endlos ist", und versucht, im Team dreier beobachtender und filmender Weißer einer Gerichtsverhandlung oder Mediationssitzung in einem Dorf (englisch: hamlet) nahe der Hauptstadt Ruandas beizuwohnen: Eine Frau spricht dort über den Mörder ihres Kindes, aber sie blickt dabei niemanden an; ob sich dieser Mörder im selben Raum befindet oder nicht, erfahren die Weißen nicht.

Aus der Wahr-Nehmung derlei kategorisch unterschiedenen Geschehens formt Waterhouse wundersame Motivverknüpfungen und aufwühlende Evidenzen zwischen hier und jetzt und damals und dort: "Was sagte die Frau, welche sagte, sie sehe nunmehr dich und sehe nunmehr, daß du der Sohn bist und zu uns allen gehörst? Sah sie den, welchen niemand im Haus kannte, sah sie den, welchen in dem Haus alle kannten? Warum übte Hamlet in Dänemark, auf der Burg Elsinore (deutsch: Nirgendsnoch, dänisch: Helsingör), nicht die aufgetragene Rache, tötete nicht den Mörder seines Vaters? Hinderte ihn daran und rettete ihn die Schönheit? Hätte er Rache übend und den Täter tötend bloß seinen Vater getötet? Wurde der Täter, der nicht sein Vater war, im Augenblick der Rache zu seinem Vater? Konnte der Täter der sein, der er nicht war? Konnte ein jeder zu dem werden, der er nicht war? Konnte ein jeder sein und nicht sein? Konnte ein jeder be und zugleich not be? To a or to be, A oder B sein - und das hatte nichts zu tun mit Schönheit?"

Im Prolog zum großen Zentralkapitel seines Buches schreibt Waterhouse dem Werk des deklarierten "Realisten" Charles Dickens das Charakteristikum einer "Confused imagination" zu, diese bringt also den Honigverkäufer aus China als eine Art Allegorie der Blindheit für gegenwärtige Verhältnisse ins Spiel europäischer und afrikanischer Weltschau-Plätze; an dessen Ende ist Gilbert Keith Chesterton mit seinem Aufsatz über Dickens zitiert, "daß nämlich das Beobachten eine dünkelhafte Angewohnheit war, man könnte auch sagen, daß es Meinung war, Ansicht und sentenzenhaft". Und weiter: "Unser Gedächtnis bewahrt niemals eine Tatsache, die wir bloß beobachtet haben; um sich einer Gegend immerdar erinnern zu können, muß man dort eine Stunde lang gelebt haben, und um irgendwo eine Stunde leben zu können, muß man für eine Stunde vergessen, wo man ist."

Der Kolumnist der Tageszeitung konnte schreiben, dass mit den Besetzern der aufgelassenen Volksschule in der Triester Straße "kurzer Prozeß" gemacht wurde, ohne dabei gewesen zu sein. Waterhouse hingegen lebte dort wohl "eine Stunde lang" mit dem Traum der jungen Hausbesetzer von einer sinnvollen Nutzung des leerstehenden Hauses, nur er konnte in früher Morgenstunde vor der Räumung der Schule im Echo der Schlusszeile von Shakespeares 31. Sonett "And thou, all they, hast all the all of me" für einen Moment lang sehen, was niemand sonst hat sehen können: eine mögliche Harmonie, in der ein Polizist der Alarmabteilung an das Bett des schlafenden zwanzigjährigen Hausbesetzers trat, den Traum des jungen Träumers vor sich.

In solch mit sprachlichen Probierstücken umkreisten sprachlosen Momenten stecken die Schönheit und der Wille des Lebens, sie sind sein spiritueller Kern, als dessen Übersetzer Peter Waterhouse sich sieht. Dass diese Übersetzung oft nur auf Umwegen und mit bohrenden Fragen erreichbar ist und dass sie die Destruktivität und die Phrasen der herrschenden falschen Vorstellungen vom Leben unverhohlen zum Ausdruck bringen muss, macht er mit seinem Buch auf eine kompromisslose Weise klar, die nur wenigen bedeutenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern gegeben ist.

Hinreißend beschwört er die Sehnsucht nach dem richtigen Leben und schenkt den Trost der Komik mitten in der Sach-Zwang-Gewalt seiner verbauten Gegenwart: "Schweizer Garten, angelegt in den Jahren 1902 bis 1904, zur Erinnerung an die Hilfe, welche die Schweiz Österreich leistete nach dem Ersten Weltkrieg", liest er auf einer Tafel am Eingang dieses Gartens. (Kurt Neumann, DER STANDARD/Album, Printausgabe, 14./15.5.2011)