Ein Labyrinth der Spiegelfiguren, Michelangelo Pistolettos Markenzeichen.

Foto: Sebastiano Luciano, 2011/MAXXI Foundation

Vor einem Jahr wurde das MAXXI in Rom eröffnet. 150 Millionen Euro hatte das von der Stararchitektin und Pritzker-Preisträgerin Zaha Hadid erbaute Haus der Kunst des 21. Jahrhunderts gekostet. Für italienische Verhältnisse eine schwindelerregende Summe, die ausgerechnet dem Aschenputtel der Künste - der zeitgenössischen - zugebilligt worden war. Skepsis nährt wie Dünger den Boden der Kritik, die auch prompt wie das Amen in der Kirche folgte. Das Haus sei eine Beweihräucherung der Architektin, nur ihr selbst, nicht aber der Kunst dienlich, zumal es dem auf Schwingungen, Rundungen und Bewegungen ausgerichteten Bau an dem A und O eines Museums, nämlich gerader, rechtwinkliger, zum Aufhängen von Werken geeigneter Wände fehle.

Die Pistoletto-Schau zeigt, dass die Befürchtungen unbegründet sind. Das MAXXI entpuppt sich mit seinen gleisähnlichen Verstrebungen und emporschlängelnden Rampen als exemplarische Plattform für die Gegenwartskunst. Mit seiner eigenwilligen Struktur unterstreicht es den Aspekt der Begegnung und setzt sich über rigide, anachronistische Trennungen etwa von Plastik und Malerei hinweg. Das MAXXI ist und will ein Schmelztiegel sein, und Pistolettos Werke scheinen geradezu für das Haus gemacht - und umgekehrt. Angefangen von dem Labyrinth der Spiegelfiguren, dem Markenzeichen des 1933 in Biella geborenen Künstlers.

Sphäre des Alltäglichen

Sie schweben in der Halle, nötigen die Besucher, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Pistoletto agiert als Bühnenbildner. Die auf Hochglanz polierten Stahlplatten bespielt er mit Silhouetten, meist in Rückenansicht, die er mithilfe verschiedener Techniken - von der Malerei über Fotocollage bis zum Siebdruck - auf die reflektierenden Flächen transponiert. Erst mit dem Auftritt der Besucher beginnt das Werk zu leben, Werk zu sein.

Kunst ist für Pistoletto ein Prozess. Er nimmt ihr jeden Heiligenschein, führt sie in die Sphäre des Alltäglichen zurück, greift zu angeblich banalen, armen oder gar anrüchigen Mitteln. Lumpen etwa, einem ganzen Haufen, vor dem eine klassisch-schöne, splitternackte Venus überlegt, wie ihre Blöße wohl am besten zu bedecken sei.

Dem Titel nach endet die Schau im Jahr 1974. Damals zog sich Pistoletto aus dem Kunstgeschehen zurück, um sich verstärkt der Aktionskunst und der Verbindung kreativer mit sozialökonomischer Elemente zu widmen. In einer ausrangierten Textilfabrik nahe seiner Heimatstadt Biella gründete er 1998 die Kunststadt Citta- dellarte, in der er seine Utopie, die Vereinigung aller Kunstformen zur Verbesserung der Gesellschaft, verwirklichte.

Drei Paradiese

Hier entstand auch seine jüngste Kreation, die im MAXXI nur andeutungsweise, in einer von Gianna Nanninis Wiegenlied Mama begleiteten Installation vorgestellt wird: das Dritte Paradies, das aus drei Kreisen bestehende neue Zeichen der Unendlichkeit. Die beiden äußeren Kreise stehen jeweils für das erste (die Natur) - und das zweite Paradies (das vom Menschen Geschaffene, das Künstliche). Entgegengesetzte Pole, die, so suggerieren zumindest die jüngsten Weltgeschehnisse - kurz vor einer unvermeidbaren wie auch apokalyptischen Kollision stehen. Bei Pistoletto hingegen formen sie überschneidend das Dritte Paradies: als einen Raum des harmonischen Zueinanders der natürlichen und der künstlichen Sphäre. Der mittlere Kreis ist ein schwangerer Bauch: der mütterliche Schoß einer neuen Denkweise, die die Menschheit überleben lässt, so hofft zumindest der unverbesserliche Weltverbesserer Michelangelo Pistoletto.

Was man im MAXXI in embryonaler Form sieht, wächst und gedeiht derweil im Wald des Heiligen Franziskus in Assisi. In dem seit 2008 von der italienischen Umweltschutzstiftung Fai betreuten Ort hat Pistoletto 160 Olivenbäumchen gepflanzt. Deren sich verschlingende Ölzweige werden ein gigantisches Drittes Paradies bilden: ein Eden, in dem Mensch wieder zu Bewusstsein kommen kann und soll. (Eva Clausen aus Rom, DER STANDARD/Album, Printausgabe, 14./15.5.2011)