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Erst knapp zwei Jahre nach dem Unglück wurden die Wrackteile der Air-France-Maschine vom Grund des Atlantiks geborgen. Bei dem Unglück am 1. Juni 2009 waren 228 Menschen umgekommen, es gab keine Überlebenden.

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Die Daten des Flugschreibers werden in den kommenden Wochen ausgewertet.

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Peter Hüttig: "Es muss im Cockpit noch mehr Richtung Teamwork und gegenseitiger Kontrolle gehen."

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Er erklärt Birgit Baumann auch, warum Piloten öfter mal manuell fliegen sollen.

STANDARD: Am 1. Juni 2009 stürzte eine Air-France-Maschine zwischen Rio und Paris über dem Atlantik ab, 228 Menschen starben. Wann ist klar, was da passiert ist?

Hüttig: Die französische Luftfahrtermittlungsbehörde hat am Montag bekanntgegeben, dass die Daten des Flugschreibers ausgewertet werden können. Das war nicht selbstverständlich – es ist, wie wenn man eine Digitalkamera ins Wasser wirft. Normalerweise hält ein Flugschreiber 30 Tage in 6000 Meter Tiefe aus. Im Falle des Air-France-Fluges 447 waren es zwar nur 4000 Meter. Aber das Gerät lag zwei Jahre da unten.

STANDARD: Und nun kann man auf Aufklärung hoffen?

Hüttig: Man darf nicht hoffen, dass alles restlos aufgeklärt wird. Alles wurde nicht aufgezeichnet, und es gibt noch die ziemlich wahrscheinliche Hypothese, dass die durch Vereisung ausgefallenen Sensoren für die Geschwindigkeitsmessung auch eine wesentliche Rolle gespielt haben. Aufgezeichnet werden aber nicht die Werte aller drei Sensoren.

STANDARD: Zwei Jahre suchte man nach Wrack und Flugschreiber. Das ist eine lange Zeit. Wollte da jemand etwas vertuschen?

Hüttig: In der Tat, zwei Jahre und mehrere erfolglose Suchaktionen sind eine sehr lange Zeit. Nicht nur von mir, auch von anderen Experten, ist gleich nach der Katastrophe die Hypothese aufgestellt worden, dass das Flugzeug direkt dort, wo es seine letzte Position hatte, in den Strömungsabriss kam und fast senkrecht nach unten sackte. Jetzt wurde das Wrack tatsächlich keine zehn Kilometer von der Stelle entfernt gefunden. Da fragt man sich schon, warum vorher auf so großem Gebiet gesucht wurde, nur der Bereich, der infrage kam, fast systematisch ausgelassen wurde.

STANDARD: Es gab weitere Merkwürdigkeiten.

Hüttig: Die Angehörigen der Opfer verlangten immer wieder, in einer Simulation herauszufinden, was mit einem Flugzeug passiert, wenn die Flugsteuerungsrechner falsche Geschwindigkeiten gemeldet bekommen. Doch dies wurde bis heute nicht untersucht, obwohl nicht auszuschließen ist, dass auch am Steuerungssystem des Flugzeugs etwas nicht in Ordnung war. Bei einer ergebnisoffenen Untersuchung hätte man das untersuchen müssen.

STANDARD: Wo gibt es generell in der Luftfahrt Verbesserungspotenzial?

Hüttig: Ich möchte zunächst auf Verbesserungen bei den letzten zwei Generationen von Flugzeugen hinweisen. Da sind die Systeme schon durch Automatisierung sehr viel sicherer geworden, man denke etwa an den A380. Piloten werden immer mehr zu Managern. Bei der Landung mussten sie früher viel mehr auf Sicht und von Hand fliegen, heute wird das alles berechnet und vom Autopiloten erledigt. Dass Flugzeuge heute an Bergen zerschellen, kommt praktisch nicht mehr vor.

STANDARD: Ist es sinnvoll, Piloten immer mehr abzunehmen?

Hüttig: Diese Automatisierung hat natürlich auch eine Kehrseite. Sie hat den Nachteil, dass Piloten nicht mehr so gut manuell reagieren, wenn sie in einer Extremsituation selbst gefragt sind, weil die Systeme ausfallen. Ich plädiere sehr dafür, dass Piloten wieder mehr manuell fliegen. Es reicht nicht aus, alle sechs Monate im Simulator eine Extremsituation durchzuspielen.

STANDARD: Was hat sich noch in den vergangenen Jahrzehnten zum Positiven geändert?

Hüttig: Früher war es mehr reaktiv. Nach einem Unfall wurde nach Fehlern gesucht und dann überlegt: Was müssen wir machen, dass so etwas nicht mehr passiert. Heute setzt man mehr auf Safety-Management, man versucht also mehr in die Zukunft zu schauen und zu überlegen: Was könnte passieren, wo müssen wir vorsichtig sein. Die Flugdatenschreiber der Fluglinien werden routinemäßig nach jedem Flug ausgewertet und analysiert. Tritt ein Problem gehäuft auf, kann man reagieren. So merkte man etwa, dass der lange Airbus 340-600 bei der Landung bisweilen sehr hart aufsetzte. Wenn man weiß, dass das kein Einzelfall ist, können Piloten trainieren, die Maschine bei der Landung früher abzufangen.

STANDARD: Sie wollen natürlich keine Panik verbreiten. Aber es muss doch auch Bereiche geben, wo es besser laufen könnte.

Hüttig: Klar. Verbesserungspotenzial sehe ich überall, wo der Mensch nicht herausgenommen werden kann, bei der Zusammenarbeit der Verantwortlichen also. Es muss im Cockpit noch mehr in Richtung Teamwork und gegenseitiger Kontrolle gehen. In Europa funktioniert das immer besser, da weist auch der Kopilot den Piloten mal auf einen Fehler hin. In anderen Kulturkreisen ist das schwieriger, da verbessern Untergebene ihre Chefs nicht.

STANDARD: Und wo sehen Sie bei der Technik noch Spielraum?

Hüttig: Es gibt keine Quantensprünge mehr. Bei Material und diversen Prozessen kann man nur noch sehr begrenzt verbessern. In 70 Prozent der Fälle ist menschliches Versagen das Problem.

STANDARD: Gibt es Situationen, wo Sie selbst beim Fliegen zittern?

Hüttig: Nicht vor einem Versagen der Technik, auch nicht bei Schlechtwetter. Wenn allerdings ein Pilot dreimal zum Landeanflug ansetzen müsste, dann wäre mir als Passagier schon mulmig. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.05.2011)