Roger Willemsen: "Der den Kick sucht, würde sagen: Wirklichkeit liegt in der größtmöglichen Adrenalinausschüttung begründet, im Revolverlauf im Bordell in Kambodscha."

Foto: Anita Affentranger

STANDARD: Herr Willemsen, Sie scheinen eine Neigung zu haben, Weltgegenden zu bereisen, die selbst von ambitionierteren Touristen gemeinhin aus guten Gründen gemieden werden. Wie wählen Sie Ihre Destinationen aus?

Roger Willemsen: Wenn ich das Gefühl habe, zu Hause wird es mir zu langweilig, folge ich dem Versprechen magischer Namen. Das könnten Dakar, Timbuktu, Odessa oder Kamtschatka sein. Man bereist immer auch die Aura eines solchen Namens. Allerdings fühlte ich mich schon früh im Leben immer auch von menschenleeren Gegenden, etwa von Wüsten, angezogen. Weg von der Schauseite, hin zur Kehrseite einer Landschaft. Die Menschen, die dort siedeln, sind weltabgewandt. Es herrscht die Natur.

STANDARD: Was treibt einen aber gerade nach Kamtschatka? Der Name ist zwar ein klingender. Die sibirische Halbinsel war aber bis zum Ende der Sowjetunion militärisches Sperrgebiet und ist nicht gerade für ihre kulturelle Vielfalt und Schönheit berühmt.

Willemsen: Man betritt da eher Seelenzustände und fühlt sich unbehaust. Kamtschatka ist die Weltgegend mit der größten Dichte noch tätiger Vulkane und den merkwürdigsten Wolkenbildungen, die ich je gesehen habe. Man hat dort die Illusion, dass man an ein "An-sich" von Orten gelangt. Der Tourist reist immer nur mit flüchtigen Bodenberührungen, der Reisende meines Verständnisses möchte gern in der Landschaft verschwinden, unscheinbar werden. Man hat das Gefühl, dass man einen weißen Fleck auf der Landkarte betritt. Menschen und Landschaft dort haben keine Mittel, um auf Touristen einzugehen.

STANDARD: Eine banale Erkenntnis des Reisens lautet: Man kann nicht vor sich selbst weglaufen. Fühlen Sie sich stärker eins mit sich selbst, wenn Sie irgendwo in der Einöde stehen und keine Möglichkeit haben zu flüchten?

Willemsen: Man erfährt sich selbst als unausweichlich. Man selbst ist das einzige Kontinuum. Zu Hause, in der Zivilisation, verstellen einem die immergleichen Reklamebilder, all der Kulturmüll, der sich über die Jahrhunderte angehäuft hat, die Welt. Gleichzeitig gibt es Bilder und Zustände, die man zu Hause nicht antizipieren kann. Gefährdung, Ekel, Vereinsamung, unter Umständen sogar Langeweile kann man zu Hause nicht in so dramatischen Formen wie in Kamtschatka oder der Sahara oder im Dschungel von Borneo kriegen. Man erlebt dort Phänomene der Selbsterneuerung: Ah, der bin ich! Unabhängig davon, dass man ja auch immer eigene Konjunktive bereist: Wer hätte ich dort, wo ich hinfahre, sein können. Wer wäre ich gewesen, wenn ich dort aufgewachsen wäre. Wer wäre ich, wenn ich an der Seite einer zwei Zentner schweren sibirischen Freistilringerin das Kamasutra durchdeklinieren müsste?

STANDARD: Das Paradoxe ist also, dass man in der Fremde, wo einen die äußeren Eindrücke eigentlich latent überfordern sollten, weniger Ablenkung von sich selbst findet als zu Hause?

Willemsen: Absolut. Das erfährt man aber erst dort. Ich habe etwa im Hochland von Patagonien Menschen getroffen, die keinen Strom, keine Bücher, kein Radio haben. Die hocken dort nachts in vollkommener Finsternis auf einem Hügel - und transzendieren sich nicht. Das ist etwas, das ich anstaunen kann, weil ich nicht weiß, was diese Leute in sich selbst finden. Ich an ihrer Stelle würde verrückt werden. Diese Form der permanenten, unausweichlichen Selbstbegegnung findet man nur bei Menschen, die weltabgewandt leben. Das sind nicht immer die sympathischsten Leute. Manche von ihnen sind auch bitter geworden. Sie müssen aber ein profundes Innenleben haben, sonst könnten sie so nicht leben. Es ist eine Herausforderung, mit solchen Menschen umzugehen.

STANDARD: Und wenn die Leute dort einfach im Dunkeln sitzen und sich nichts denken, weil Sie sonst nämlich an ihrer Stelle tatsächlich durchdrehen würden?

Willemsen: Das ist natürlich auch möglich. Wenn ich etwa gerade an eine Witwe dort denke, zu der ich mich in den Dreck legte, ihre Suppe aß und mich auf ihren Monolog einließ, wurde das auch dramatisch einsam für mich. Es gibt Zustände der Einsamkeit, die einen regelrecht körperlich anfassen. Sie sitzen nachts in einer Hütte, haben kein Licht, keine Kerze. Sie können nicht lesen. Das heißt, Sie überlassen sich die nächsten zwölf Stunden lang sich selbst. Sie gehen auch nicht raus, weil Sie wissen, dass sie sofort allerhöchste Aufmerksamkeit erregen. Man schreitet da Möglichkeiten und Grenzen ab, an denen man gerade noch mit sich selber etwas anfangen kann. Man wird regelrecht in die eigene Tiefe, in dramatische innere Zustände gezwungen. Plötzlich merkt man, wie sich Angst materialisieren kann. In einem Bordell in Kambodscha, wo ich gedreht habe, hat jemand eine Waffe gezogen und diese auf mich gerichtet. Was macht in dem Augenblick mein Kopf? Macht man sich einen Fleck in die Hose? Wird man eiskalt - oder ironisch?

STANDARD: Schriftsteller wie Evelyn Waugh, David Foster Wallace oder Heinz Strunk gingen den entgegengesetzten Weg und suchten das Abenteuer im Pauschaltourismus oder auf Kreuzfahrtschiffen. Nachdem viele Schrecken von Ihnen bereits durchdekliniert wurden, würde das auch Sie reizen?

Willemsen: Die Frage ist: Wo bin ich wirklich? Wo ist eine Wirklichkeitserfahrung möglich? Der den Kick sucht, würde sagen: Wirklichkeit liegt in der größtmöglichen Adrenalinausschüttung begründet, im Revolverlauf im Bordell in Kambodscha. Das suche ich nicht. Es ereilt mich. Am Ende habe ich es überstanden. Die Geschichten, die ich erzähle, die mir darstellungswürdig erscheinen, sind eher leiserer Natur. Da spielen die Witwe auf dem Hügel in Patagonien und überhaupt prinzipiell Dinge, die mich nicht so gefährden, eher eine Rolle.

STANDARD: Die Arbeitsmethode lautet: sich treiben lassen und dabei genau zu beobachten?

Willemsen: Hinter dieser Frage steckt eine weitere - ob ich dort nämlich vor einem Kunstdenkmal angekommen bin oder doch in einer Umarmung, in einem Duft, in einem Konflikt? Man bringt keine Schnappschüsse mit, sondern möglichst genaue Beschreibungen. Was war Hongkong? Da reicht es nicht, den Passstempel herzuzeigen und zu sagen, ich war da. Man muss die Wirklichkeit Hongkongs herstellen können. Ich wähle dieses Beispiel, weil ich einmal in Hongkong zwei Wochen krank in einem Hotelzimmer gelegen bin. Ich musste feststellen, dass ich die Straße vor dem Hotel, die ich zuvor hundertmal abgegangen war, nicht schreiben konnte. Während ich also auf der Straße gegangen war, war ich gedanklich woanders. Wo war ich also wirklich? Die Konfrontation mit der eigenen Dummheit bleibt den meisten Menschen erspart, dem Schreibenden nicht. (Christian Schachinger, DER STANDARD - Printausgabe, 19. Mai 2011)