Kerstin Tiefenbacher hat in Rio de Janeiro Feldforschung für ihre Dissertation betrieben. Hinter der Politik der Stadtregierung, die Copacabana "prostitutionsfrei" zu halten, sieht sie das Ziel, der informellen Sexarbeit eine Ende zu setzen und eine kontrollierte Prostitution zu erzwingen. Die Verliererinnen sind die Sexarbeiterinnen.

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Der Einstieg in die Sexarbeit eröffnet den Frauen neue Handlungsspielräume: "Das bedeutet aber auch, dass die Ungleichheit - und diese zu negieren oder auszublenden wäre fatal - vorher passiert, bzw. auf auf einer strukturellen und globalen Ebene zu lokalisieren ist", verweist Tiefenbacher auf die ökonomische Benachteiligungen der Frauen am brasilianischen Arbeitsmarkt, die im Zusammenhang mit globalen, in der Kolonialzeit wurzelnden Ausbeutungsstrukturen zu sehen ist.

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Sextourismus ist in Rio de Janeiro sehr präsent – und ausdifferenziert: Heutzutage geht es nicht nur mehr um kurzfristigen billigen Sex. Wo Prostitution informell und nicht organisiert abläuft, spielt Intimität eine Rolle. "Damit einhergehend veränderten sich auch die Beziehungsformen und es kommt zu Verhältnissen, in denen Geld und Liebe koexistieren", sagt Kerstin Tiefenbacher. Die Forscherin hat sich für ihre Dissertation nach Rio begeben, um einen genaueren Blick auf "Globale Intime Beziehungen", so der Titel ihrer Arbeit, zu werfen.

Diese Veränderungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Sextourismus nach wie vor geschlechts-, klassenspezifische und rassistische Machtverhältnisse, die in der Kolonialzeit wurzeln, gibt. Im Interview mit Birgit Tombor erzählt Tiefenbacher über die Ausprägungen der Sexarbeit und darüber, dass sie keine einzige Frau getroffen hat, die sich selbst als "Sexarbeiterin" bezeichnet. Sie spricht über die Dominanz des männlichen Sextourismus', über Erwartungshaltungen und den daraus resultierenden Zusammenhang von Geschlechterhierarchie und Macht.

dieStandard.at: Südamerika liegt in der mainstream-Wahrnehmung und im medialen Fokus eher abseits, wenn es um Sextourismus geht. Da kommen eher Länder wie Thailand oder Tunesien vor. Was hat Sie nach Brasilien verschlagen?

Kerstin Tiefenbacher: Ich denke in der sozialwissenschaftlichen Forschung gibt es – insofern es sich nicht um Auftragsforschung handelt - einerseits immer den persönlichen Zugang zum ausgewählten Forschungsbereich und andererseits die wissenschaftliche Relevanz. Ich finde es sehr wichtig und keineswegs unwissenschaftlich, den persönlichen Zugang zu reflektieren und auch zu kommunizieren. Vor allem in der Kultur- und Sozialanthropologie sollten wir uns im Sinne einer post-kolonialen Kritik die Frage stellen: warum und mit welcher Legitimation beforsche ich das Leben anderer Menschen?

In meinem Fall spielt dabei meine Lebensgemeinschaft mit einem carioca (EinwohnerIn Rio de Janeiros, Anm.) bestimmt eine zentrale Rolle. Einige Einblicke, wenn auch nur sehr oberflächliche, in die brasilianische community in Wien haben außerdem mein Interesse geweckt, sodass ich mich inzwischen seit sieben Jahren wissenschaftlich mit Rio de Janeiro beschäftige.

Andererseits gibt es die wissenschaftliche Begründung, warum nicht Pattaya sondern Rio de Janeiro: Mit der Entwicklung des internationalen Tourismus zum Massenphänomen und der Erschließung neuer Destinationen in Lateinamerika, der Karibik und Afrika seit den 1990er Jahren fand nicht einfach eine globale Verbreitung des Phänomens des klassischen Sextourismus statt, sondern Sexualität und Intimität nahmen im Kontext des Ferntourismus neue Formen an. Die Intimkontakte finden an diesen neuen Destinationen primär in informellen Settings statt, es handelt sich nicht um organisierte Prostitutionsszenen. Damit einhergehend veränderten sich auch die Beziehungsformen und es kommt zu Verhältnissen, in denen Geld und Liebe koexistieren.

dieStandard.at: Wie sah die Feldforschung konkret aus: Wie haben Sie ihre Teilnehmer/innen gefunden und zum Mitmachen gebracht? Schließlich haftet dem Sextourismus ein Makel an.

Tiefenbacher: Ich lege sehr viel Wert auf einen explorativen und offenen Zugang. Das bedeutet einen Balanceakt, sich auf die Vorkommnisse und Gegebenheiten, die man im Feld vorfindet, einzulassen, und gleichzeitig – überspitzt gesagt - auch die eigene Forschungsfrage nicht aus den Augen zu verlieren.

Mein Ziel war es, vertiefte, persönliche Beziehungen zu den Frauen aufzubauen und das ist mir gelungen. Nicht zuletzt deswegen, weil es Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte gab, die sich sehr essentialistisch anhören, im Feld jedoch tatsächlich funktioniert haben: das Mutter sein ist zum Beispiel so eine Gemeinsamkeit, die mich den Frauen näher gebracht hat. Auch das gegenseitige Verstehen wollen hat meine Forschung sehr bereichert und aufgelockert. Zum Beispiel war es den Frauen ganz und gar unverständlich, wieso mein Lebensgefährte es zulässt, dass ich mich nachts mit ihnen in der Bar rumtreibe und er zu Hause auf das Kind aufpasst.

Meine Beobachtung war also teilnehmend, aber natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Bei den Anbahnungsgesprächen war ich noch dabei, im Hotelzimmer dann aber nicht mehr! Ich nahm also so gut es ging am Alltag der Frauen teil, in dem oft die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmen. Wir gingen gemeinsam an den Strand, ins Kino, und verabredeten uns für die Nacht.

Ich will aber nicht verschweigen, dass ich regelmäßig versetzt worden bin, vor allem bei Interviewterminen. Das Aufzeichnen von Interviews stieß bei den meisten auf Ablehnung. Somit habe ich während der Feldforschung meine methodische Strategie geändert und hauptsächlich mit Gedächtnisprotokollen von informellen biografischen und narrativen Gesprächen gearbeitet und intensiv Feldforschungstagebuch geschrieben.

dieStandard.at: Sie sind mit einer Annahme angereist: Sex- und Liebestouristinnen können als Pendant zu männlichen Sextouristen gesehen werden. Davon sind Sie mittlerweile abgerückt – warum?

Tiefenbacher: Ich hatte nicht diese Annahme, sondern stellte mir dir Frage, inwiefern das Phänomen des weiblichen Sextourismus eine Neuverhandlung von Geschlechterrollen ermöglicht und somit zu neuen Formen von Geschlechterbeziehungen führen kann. Diese Frage bleibt weiterhin offen, denn ich habe während meines Feldforschungsaufenthaltes festgestellt, dass der weibliche Sextourismus in Rio de Janeiro nicht wirklich existent ist.

Westliche Touristinnen, die auf der Suche nach einer sexuellen, intimen Begegnung sind, zieht es innerhalb Brasiliens in die nordöstlichen Bundesstaaten, vor allem nach Bahia, Ceará und Pernambuco. Außerhalb Brasiliens sind die Karibik und auch einzelne afrikanische Länder wie z.B. Kenia beliebte Reiseziele. Das mag damit unter anderem zusammenhängen, dass an diesen Orten der Topos des "schwarzen Mannes" als "hypersexueller Kraftprotz" sehr dominant ist, während Rio de Janeiro eine mit weiblichen Attributen und Imaginationen besetzte Stadt ist – Stichwort girl from Ipanema und Sambatänzerinnen. Zwar gibt es in Rio diverse Formen intimer und sexueller Begegnungen und Beziehungen, die sich vor dem Hintergrund des globalen Massentourismus abspielen, jedoch dominieren der hetero- und homosexuelle männliche Sextourismus.

dieStandard.at: Und welche Formen hat der?

Tiefenbacher: Der Begriff "Sextourismus" an sich ist schon problematisch, da es um viel mehr geht als kurzfristigen billigen Sex. Was ich vorgefunden habe, sind Beziehungen, die sowohl kommerzielle als auch nicht kommerzielle Ausprägungen haben und von punktuellen Begegnungen bis hin zu langfristigen Beziehungen, die nicht selten in einer Heirat enden, reichen. Aber auch alternative Bezeichnungen wie Liebes- oder Romantiktourismus können der Diversität und Komplexität der Beziehungen nur ungenügend Rechnung tragen bzw. laufen Gefahr, existierende Ungleichheiten und Machtdifferenzen auszublenden oder zu verschleiern.

Auch die bei uns als politisch korrekt geltende Bezeichnung Sexarbeiterin greift etwas zu kurz. Im Feld habe ich keine einzige Frau kennengelernt, die sich selbst als "trabalhadora de sexo", also als Sexarbeiterin bezeichnet. Die emischen Begriffe reichen von puta (Hure) bis dama de escort (Escort Dame), es gibt jedoch einen lokalen Sammelbegriff, der von allen verwendet wird: garota de programa, was so viel heißt wie "Programm-Mädl", wobei ein programa jegliche Formen einer entlohnten, sexuellen Aktivität umfasst.

dieStandard.at: Wie präsent ist Sextourismus in Rio?

Tiefenbacher: Sehr präsent, keine Frage. Das sieht auch die Stadtregierung von Rio de Janeiro so, weswegen sie vor ca. zwei Jahren die größte Disco an der Copacabana, die international als Treffpunkt für den informellen Sextourismus bekannt war, schließen ließ. Das Ergebnis war vorauszusehen: die Prostitution hat sich einfach um ein paar hundert Meter verlagert, eine andere Bar ist nun der Treffpunkt; jedoch verfügt diese Bar über keinerlei Infrastruktur und platzt aus allen Nähten, was die Frauen auf die Straße treibt. Die Arbeitsbedingungen für die garotas haben sich also radikal verschlechtert.

Die Argumentation seitens der Stadtregierung, man wolle die Copacabana "prostitutionsfrei" halten – vor allem in Hinblick auf die bevorstehenden sportlichen Großereignisse – ist unglaubwürdig. Vielmehr scheint es darum zu gehen, der informellen Sexarbeit eine Ende zu setzen und eine kontrollierte Prostitution zu erzwingen, in der die Bordellbesitzer mit der Polizei kooperieren und diese somit auch ein Stück vom Kuchen bekommt. Die Verliererinnen sind natürlich die garotas.

dieStandard.at: Wie sehen Sie die Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld des Sextourismus nach der Feldforschung?

Tiefenbacher: Um diese Frage zu beantworten, müssen vorerst zwei Dinge festgehalten werden. Erstens bedürfen die spezifischen Kontexte der Beziehungsbeteiligten einer umfassenden Berücksichtigung. Wie sind lokale Geschlechterverhältnisse historisch gewachsen, wie sehen die poltischen und gesellschaftlichen Kämpfe darum aus und welche Konzepte von Sexualität liegen vor?

Zweitens ist es sehr wichtig, die Geschlechterverhältnisse immer in ihrer Verschränkung mit anderen Differenzachsen zu sehen. Welche Wechselwirkungen und Dynamiken lassen sich in Brasilien z.B. zwischen einem Gender-, race- und Klassen-Klassifikationssystem beobachten? Während manche Wissenschaftler_innen im Hinblick auf Brasilien von einem starren und bi-polaren Gender-Regime und einem scheinbaren Kontinuum bezüglich race und Ethnizität sprechen, bringen die garotas diese Annahmen ins Wanken und spielen mit diesen Verortungen und Kategorien: Sie teilen die Touristen in brancos (die Europäer) und negros (Amerikaner) ein und schreiben Ihnen bestimmte Qualitäten bzw. Mängel zu. Bei den Europäern wird dann noch nach Nationalitäten differenziert.

Was Geschlechterhierarchie und Handlungsmächtigkeiten betrifft, bietet der Mikrokosmos der touristischen Örtlichkeiten einerseits viel Verhandlungsspielraum, ist jedoch in globale Ungleichheitsverhältnisse eingebettet. Einerseits sind die lokalen Frauen durch Ortskundigkeit, Sprache, Netzwerke und Professionalität den Touristen überlegen. Sie bestimmen zum Großteil die Form des Beziehungsablaufes, z.B. gibt es viele, die nie auf Männer zu gehen würden, sondern darauf warten, an den Tisch eines Mannes oder einer Gruppe Männer eingeladen zu werden. Dahinter verstecken sich ganz traditionelle Erwartungen an Männlichkeit: der Mann muss zunächst die Rolle des Eroberers einnehmen, dann die des Ernährers. Er sollte Unterhalt für die Frauen und deren Kinder gewährleisten können. Und hier kommt auch die andere Seite der Medaille zum Vorschein: die ökonomische Unterlegenheit, die die Frauen in ein Abhängigkeitsverhältnis drängt.

dieStandard.at: Welche Erwartungen haben die Menschen vor Ort, wenn sie eine sexuelle Beziehung mit einem Sextouristen eingehen? Welche Abhängigkeiten entwickeln sich?

Tiefenbacher: Prinzipiell ist zu betonten, dass es sich bei den garotas um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Es gibt eine Reihe von emischen Unterscheidungsmodellen und Einteilungen, eine wäre die Unterscheidung ob frau "na vida" (im Leben, Synonym für die Sexarbeit) ist, weil sie Geld braucht oder dringend benötigt. Danach gestalten sich auch die Abhängigkeitsverhältnisse: je dringender ich das Geld brauche, desto weniger Handlungsspielraum habe ich, z.B. in Bezug auf Auswahl des Freiers, Preisverhandlungen etc. Dadurch entsteht auch ein ranking unter den garotas. Das ultimative Ziel vieler ist die Heirat mit einem sehr reichen Europäer oder Amerikaner, à la "Pretty Woman".

Während jedoch vor zehn Jahren der Traum vom Leben in Europa oder den USA noch sehr verbreitet war, macht sich nun eine Veränderung bemerkbar: vielleicht wegen ernüchternder Berichte von Frauen, die bereits in Europa gelebt haben und wissen, was es in unseren Breitengraden bedeutet Migrantin zu sein, wollen die Frauen aus "ihrem Rio de Janeiro" nicht mehr weg. Sie entwickeln eine Reihe von Geschäftsideen, die vom Schönheitssalon bis zum Importgeschäft reichen, und die sie mit Hilfe der Touristen in der Zukunft verwirklichen wollen – allerdings auf heimischem Boden. (bto/dieStandard.at, 23.5.2011)