Das Schweigen als Zeichen der lettischen Liebe: Badeszene aus einer baltischen Versuchsordnung, die genauso gut von Ödön von Horváth stammen könnte.

Foto: Malderis

Wien - Man muss vielleicht niemals in Lettland gewesen sein, muss in der baltischen Republik nicht geliebt haben und auch nicht dort gestorben sein, um Alvis Hermanis' Szenenfolge Lettische Liebe zu mögen. Dem kleinen Potpourri herzzerreißender Liebesgeschichten und Heiratssachen gebührt anlässlich seiner Festwochen-Premiere im schwülen Museumsquartier (Halle G) dennoch ein ganzer Strauß genügsamer, herb duftender Heidegewächse.

Aus lauter Langeweile seien die Miniaturdramen des Jaunais Rigas teatris entstanden: Die auf Tournee durch Frankreich reisenden Hermanis-Schauspieler hätten einander Kontaktanzeigen aus Zeitungen vorgelesen, die sie aus Riga mitgebracht hatten. Die schönsten Selbstdarstellungen lettischer Liebesbedürftiger und Einsamer landeten als Schnipsel in einer Tasse. Als Ergebnis einer blinden Ziehung hatte jeder sofort die Person zu improvisieren, die ihm oder ihr zugefallen war.

"Bin fröhlich, verträglich, ohne gesundheitsschädigende Laster ..." - "Bin verheiratet, aber einsam ...": Der Witz dieser am schmalen Rande zur Hochkomik balancierenden Selbsteinschätzungen basiert auf einem ganzen Arsenal aus Codes und sprachlichen Verabredungen.

Nur wer den 1991er-Sprung herüber in die freie, postsowjetische Ordnung ermisst, kann die Brüche in den Biografien älterer Lettinnen und Letten auch als Narben erkennen. Die Anpassung an die Gepflogenheiten der Konsumgesellschaft reißt neue, oft nicht weniger schmerzliche Wunden: Alte Sinnzuschreibungen müssen entsorgt, Wertorientierungen geändert werden. An die Stelle des alten, kommunistischen Gespenstes tritt das kaum weniger furchteinflößende der Einsamkeit.

Idylle alter Postkarten

Regisseur Hermanis hat sich für die Ästhetik der Postkartenidyllik entschieden, um die gesellschaftliche Wende zu markieren: Hinter jeder Szene wird ein fotorealistisches Tafelbild aufgestellt (Bühne: Monika Pormale). Die Ostsee zeigt ihre gefrorenen Wellen. Die Innenarchitektur der "Guten Stube" verrät mit Bücherwänden in verschossenen Farben die erzwungene Muße einer auf absolutes Stillhalten verpflichteten Gesellschaft.

Man muss Hermanis die unheilvolle Neigung nachsehen, seine der Idee der Materialsammlung verpflichtete Kunst unausgesetzt - und unerbeten - zu rechtfertigen. Den kürzlich am Akademietheater herausgekommenen Platonov versah er mit einer Vorrede. Nun äußert er am Programmzettel die Befürchtung, dass Lettische Liebe nicht recht verstanden werde könnte - zu randständig, zu lettisch, zu sehr "lokal gebunden" sei die 2006 entstandene Produktion.

Aber es gibt nichts zu entschuldigen. Zu Paaren treten sie auf: der fußmarode Hagestolz mit der Künstlerbaskenmütze, dessen monumentale Aktmalereien einst auf der "Allunions-Ausstellung 1965 in Taganrog" Furore machten, ehe ihn die Partei aus der Künstlergewerkschaft verstieß. Und allerliebst, nur um ihm zu gefallen, übt in seinem Atelier die ehemalige Balletttänzerin die Gesten des Spitzentanzes - das neue potenzielle Opfer seiner auf Fleisch und Cézanne-Äpfel gerichteten Malwut.

Menschen wie "Ilona" und "Vitolds" wiederum sind die späten, fernen Verwandten der Ödön-von-Horváth-Kleinbürger: Mit verkniffenem Ernst schlüpfen sie in ihre Badetrikots, unausgesetzt von der Sorge gepeinigt, sich vor dem künftigen Lebensabschnittspartner ungebührlich zu entblößen. "Pointen", wenn es sie in den 13 Kürzestdramen denn gibt, münden in Markierungen einer großen Unentschiedenheit: Aus dem schüchternen "Vitolds" sei später ein Alkoholiker geworden. Er suche nach hinterlassenen Haaren "Ilonas". Fände er eines, er wüsste dann, sie käme zu ihm zurück.

Kein Unterschichtfernsehen, sondern ein bezaubernder, leichtfüßiger Theaterabend mit großen Proben vom kleinen Glück. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 23. 5. 2011)