Der Lepage-Schauspieler Yves Jacques auf Erkundung.

Foto: Grenier

Wien - Ein Mann öffnet die Schiebetür eines dichtbehängten Kleiderkastens. Es ist die Garderobe seiner erst kürzlich verstorbenen Mutter. Auf der Hutablage in diesem Schrank sitzt in einem Minischaukelstuhl ein Astronaut und spielt - eben schaukelnd - mit einem seinen Proportionen entsprechenden Globus ... Was klingt wie die Detailansicht einer Filmszene, ist in Wahrheit Theater. Genauer: das Theater von Robert Lepage, dessen visuelle Kunst Film- und Theatertechnik gleichermaßen in sich vereint.

Gedanken und Träume der Protagonisten drücken sich im Theateruniversum Lepages vorwiegend visuell aus. Oder akustisch: Telefonate erfolgen in betörender Soundqualität, die Distanz und Verfremdung ausdrückt. Wahrnehmungsrealitäten greifen ineinander, mit höchster technischer Präzision und Gefinkeltheit wenden Szenenbilder ihre Ansichtsseiten, oder - Old School - es mutiert mit wenigen Handgriffen ein Bügelbrett zum Fitnessgerät. Diese vielbeschworene "Magie" des kanadischen Regisseurs wirkt immer noch uneingeholt.

Vor mehr als elf Jahren erlebte Lepages' nunmehriger Klassiker The Far Side of the Moon seine Uraufführung, knapp ein Jahr später, im Herbst 2000, war die Produktion beim Steirischen Herbst in Graz zu sehen. Gewissermaßen als Reprise holte Schauspielchefin Stefanie Carp die seither um die Welt tourende Produktion jetzt zu den Wiener Festwochen. Man kann The Far Side of the Moon auch als Draufgabe zu den beiden aktuelleren Lepage-Gastspielen der vergangenen Jahre sehen, The Andersen Project (2009) und das grandiose Neunstundenepos Lipsynch im Vorjahr.

Dieses "kleine" Dreijahreskompendium machte in seiner Dichte deutlich, was der 1957 in Québec geborene Lepage und seine multidisziplinäre Produktionsfirma Ex Machina so draufhaben. Zwar ist der Meister derzeit vorwiegend mit seiner auf mehrere Jahre anberaumten Ring-Inszenierung an der New Yorker Met befasst, doch hat er in Yves Jacques ein überaus bezauberndes, ebenbürtiges Schauspieler-Alter-Ego gefunden, das ihm die Auslandseinsätze abnimmt.

Narzisstischer Wissensdurst

The Far Side of the Moon erzählt von zwei ungleichen Brüdern, Philippe und André, die der Tod der Mutter einander wieder zuführt. Während der schnittige André, ein Wettermoderator, vor dem blauen Planeten in seinem Studio überlegen hin und her tänzelt, kiefelt Philippe seit Jahren an einer Dissertation, in der er beweisen will, dass der Kosmos nicht aus Wissensdurst, sondern purem Narzissmus erforscht wird. Eine These, die wie vieles von ihm auf wenig Begeisterung stößt. Auch gelingen ihm Briefe an Außerirdische besser als ein Telefonat mit seiner Exfreundin.

In wenigen Episoden, ohne psychologische Schwerstarbeit, legt Lepage die Charaktere offen. Vor einer schwarzen, verschiebbaren Cinemascope-Wand im Burgtheater entfaltet diese technikgestützte, subtile Theatermaschine ihre Wirkkraft: Ein Kleiderkasten wird zum Lift, das Waschmaschinenauge zum Flugzeugfenster, und ein simpler Kippspiegeleffekt macht es schließlich möglich, dass Philippe vor unseren Augen schwebt. Theater aus einer anderen Hemisphäre, klug, unheimlich und schön! (Margarete Affenzeller/DER STANDARD, Printausgabe, 23. 5. 2011)