Lissabon - Patienten mit schwer geschädigtem Gehirn, die zwar ihre Augen öffnen und schließen, scheinbar aber auf keinen Impuls aus der Außenwelt reagieren, wurden in der bisher herrschenden englischen Terminologie als in einem "anhaltenden vegetativen Zustand" befindlich bezeichnet (persistent vegetative state, PVS; im deutschen Sprachraum meist "Wachkoma" genannt): Ein Ausdruck, der Unabänderlichkeit und Gehirntod suggeriert.

Das hätte häufig zum Abbruch der Rehabilitation, Vernachlässigung und manchmal zu der ethisch noch bedenklicheren Entscheidung geführt, die Ernährung oder andere lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen, erklärt der belgische Experte Gustave Moonen anlässlich der 21. Jahrestagung der Europäischen Neurologen-Gesellschaft (ENS) in Lissabon in einer Aussendung. Neue Einsichten, die mittels funktionaler Neuro-Bildgebung und elektrophysikalischer Studien gewonnen wurden, enthüllen jedoch, dass in vielen jener Patienten, die bis dato als unbewusst angesehen wurden, kortikale Restaktivitäten nachweisbar sind, selbst wenn ihr Verhalten nach außen kein Zeichen von Bewusstsein erkennen lässt.

Neue Terminologie für Bewusstseinsstörungen

Auf der ENS-Tagung stellten Experten nun eine neue Terminologie vor: sie wurde von der Europäischen Taskforce für Bewusstseinsstörungen entwickelt, der Moonen angehört: "Statt eines monolithischen Terminus, der Hoffnungslosigkeit impliziert, schlagen wir eine sorgfältige Unterscheidung der subtilen Schattierungen der Zustände verminderten Bewusstseins vor, soweit wir heute imstande sind, sie zu diagnostizieren".

• "Unresponsive wakefulness" ("Wachheit ohne Kontaktaufnahme") bezeichnet Patienten mit einem funktionierenden Schlaf-Wach-Rhythmus, die jedoch keine Reaktion auf Anweisungen und ausschließlich reflektorische Bewegungen zeigen.

• Die Taskforce schlägt vor, den nächst höheren diagnostizierbaren Zustand, bisher als "minimal conscious state" ("Zustand minimalen Bewusstseins") bezeichnet, durch "minimal responsive state" ("Zustand mit minimaler Kontaktaufnahme") zu ersetzen und in zwei Stadien zu unterteilen. "MRS-minus"-Patient/-innen sprechen auf Impulse mit Reaktionen niedrigen Niveaus an, indem sie zum Beispiel auf Schmerz reagieren oder einer Bewegung mit den Augen folgen. Im Zustand "MRS-plus" sind sie zusätzlich fähig, Aufforderungen nachzukommen, verständlich zu verbalisieren und/oder non-funktional zu kommunizieren.

• Der Terminus "funktionales Locked-in-Syndrom" wurde für Patienten geprägt, die zwar keine Verhaltensreaktionen zeigen, bei denen sich aber mit Technologien wie funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRI), Positronenemissions-Tomographie (PET), Elektroenzephalogramm (EEG) oder evozierter Potentiale eine annähernd normale Gehirnaktivität feststellen lässt. Diese Patienten scheinen klar bei Bewusstsein zu sein, sind aber nicht fähig, ihren Körper zur Kommunikation zu benützen.

"Insgesamt hoffen wir, dass diese neuen Bezeichnungen einen Wandel in der ethischen Einstellung gegenüber Patient/-innen, die seitens ihrer Umwelt mehr und nicht weniger Zuwendung brauchen, einläuten wird - denn diese Menschen haben keine Möglichkeit, ihr Recht auf menschlichen Kontakt selbst einzufordern", sagte Steven Laureys (Coma Science Group, Lüttich, Belgien), ebenfalls einer der Autoren der neuen Terminologie.

Neue Instrumente gegen Fehldiagnosen

Entscheidend bleibt allerdings auch, dass Patienten diesen neuen Kategorien korrekt zugeordnet werden: Auf der ENS-Tagung in Lissabon wurden auch zwei neue Instrumente vorgestellt, mit denen der Bewusstseinszustand eines Patienten präziser beurteilt werden kann. Mittels einer neuen Bewertungsskala, der Full Outline of UnResponsiveness (FOUR), lässt sich minimales Bewusstsein auch dort aufspüren, wo dies mittels der bisher verbreiteten Glasgow Coma Scale (GCS) und der Glasgow Liège Scale (GLS) nicht möglich war. (red, derStandard.at)