Neue Quellen für ein äußerst populäres Stück: Dirigent Nikolaus Harnoncourt bringt das Meisterwerk Smetanas in einer bislang unbekannten deutschsprachigen Fassung in die Grazer Helmut-List-Halle.

Foto: Werner Kmetitsch

Standard: Herr Harnoncourt, vor dem Hintergrund Ihrer Repertoireschwerpunkte erscheinen einige Ihrer jüngsten Projekte als eigenwillig, und es wird oft gesagt, Ihre Vorlieben hätten sich verschoben. Ist das vor allem eine Frage der öffentlichen Wahrnehmung?

Harnoncourt: Es wird viel zu viel an meiner Tätigkeit in Bewegung gesehen. Das war aber schon immer so. Als ich in den Fünfzigerjahren mittelalterliche Musik und dann Bach oder Mozart aufgeführt habe, hieß es, ich würde mich durch die Geschichte bewegen. Ich habe aber schon in den allerersten Gesprächen gesagt, dass es nie eine Zeit gegeben hat, in der ich keinen Schubert gemacht habe. Spezialisierung lehne ich grundsätzlich ab. Jetzt im Alter, wo ich meine laufende Tätigkeit einschränken muss, kann ich endlich die Sachen machen, die ich schon immer machen wollte.

Standard: Also steht die Motivation im Vordergrund, bestimmte Projekte jetzt zu machen - und nicht so sehr eine Verschiebung Ihrer Interessen.

Harnoncourt: Ich muss jetzt schon sehr aufpassen, dass ich mich nicht verzettle. Manches im Opernrepertoire habe ich bereits gemacht, aber nicht so, wie ich es wollte. Der Idomeneo (bei der Styriarte 2008, Anm.) war daher für mich eine absolute Notwendigkeit. Dvoøák und Smetana wollte ich schon seit meiner Jugend machen. Gershwin war eine Jugendliebe von mir. Die große Wiener Musik aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert hat mich immer sehr interessiert. Es war nur die Frage, was davon auch realisiert wurde. Aber es ist schon sehr merkwürdig, wenn man sagt, ich schreite in der Geschichte voran.

Standard: Ich habe mich gefragt, was Opern wie "Carmen", "Porgy and Bess" oder "Die verkaufte Braut" miteinander verbindet. Spielt es für Sie eine Rolle, dass das alles auch soziale Dramen sind?

Harnoncourt: Das sind sie vom Inhalt her, ja, und auch als Teil der musikalischen Subtexte. Dazu kommt, dass das alles sehr populäre Stücke sind, die durch ihre Popularität eine gewisse Schlagseite bekommen haben. Carmen ist ganz ins falsche Fahrwasser geraten, alle Porgy -Aufführungen nach Gershwins Tod haben all das verraten, was er eigentlich wollte. Bei der Verkauften Braut geht es auch in diese Richtung.

Standard: Was war der Ausgangspunkt für dieses Projekt?

Harnoncourt: Ich wollte das Stück unbedingt machen. Das hat auch mit meiner Herkunft zu tun. Natürlich stellt sich die Frage, in welcher Sprache man es macht. Smetana selbst hat sich ab einer gewissen Zeit, als er gespürt hat, dass die Oper ein Welterfolg wird, mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. Kein Opernhaus hat damals in der Originalsprache gespielt. Und es war klar, dass sie vom deutschsprachigen Raum aus, das heißt aus Wien, in die Welt gehen würde.

Standard: Sie spielen die Oper jetzt nicht in einer der bisher geläufigen Librettofassungen, sondern greifen auf eine unbekannte historische Übersetzung von Emanuel Züngel zurück, die noch nie für eine Aufführung herangezogen wurde. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Harnoncourt: Unser Ausgangspunkt war natürlich die Übersetzung des Brahms-Freundes Max Kalbeck, die er für die Wiener Erstaufführung gemacht hatte. Von der Styriarte wurde dann eine wortwörtliche Übersetzung gemacht, und wir haben alle Fassungen nebeneinander gelegt und miteinander verglichen. Die Sprache von Kalbeck hat Poesie, die Übersetzung von Kurt Honolka hat keine Poesie, sondern nur Sprachgenauigkeit, und manchmal nicht einmal das. Walter Felsenstein ist dem Original schon sehr tief auf die Spur gekommen. Aber dann hat sich herausgestellt, dass Smetana selbst in seiner Originalpartitur mit roter Tinte einen deutschen Text eingetragen hat. Welcher Komponist macht das schon in seiner eigenen autografen Partitur, die ja auch für ihn eine große Bedeutung hat?

Standard: Was hat es mit diesem Text auf sich, was weiß man über seinen Autor?

Harnoncourt: Es ist ein Text, den Smetana selbst anfertigen hat lassen und den er auch im frühesten Klavierauszug, der zweisprachig ist, abdrucken ließ. Zündel war ein sehr angesehener Dichter, der auf Deutsch und auf Tschechisch geschrieben hat, er war Autor von Lustspielen und Übersetzer. Wir haben damit eine vom Komponisten total autorisierte Übersetzung, die er auch mit Änderungen der Noten verbunden hat. Und Smetana hat ja besser Deutsch gesprochen als Tschechisch.

Standard: Kommen wir zur Musik. "Die verkaufte Braut" ist ja der merkwürdige Fall einer Nationaloper im folkloristischen Tonfall, die auf erfundener Volksmusik beruht.

Harnoncourt: Wenn sie erfunden sein mag, dann im Geiste der Sache. Es ist in dieser Zeit immer eine Frage, ob man das überhaupt so klar trennen kann. Die Ungarischen Tänze von Brahms sind echte, abgelauschte Tänze, die Slawischen Tänze von Dvoøák sind erfundene Tänze, aber beide Werke haben sehr viel Verwandtschaft. Ich kann nicht erkennen, dass die Tänze von Dvoøák erfunden sind. Mein Sohn (Philipp Harnoncourt, der in Graz für die halbszenische Inszenierung sorgt, Anm.) hat in Prag mit einer Tanzhistorikerin zusammengearbeitet, und sie konnte Smetanas Tänze exakt den verschiedenen Typen von Volkstänzen zuordnen.

Standard: Sie haben in anderen Gesprächen angedeutet, dass Sie das Stück vom üblichen Kitsch und Klamauk lösen möchten. Worauf zielen Sie da besonders ab?

Harnoncourt: Etwa auf die Art und Weise, in der Behinderte vorgeführt werden. Vasek (Anm.: auf Deutsch Wenzel) wird von Smetana ganz deutlich unserer Sympathie zugeführt. Die, die mit ihm singen, behandeln ihn in einer besonderen Weise. Da gibt es Subtexte in der Musik. Und wenn über ihn gesprochen wird, hat die Musik immer einen besonderen Ton. Smetana gibt ihm eine rührende lyrische Komponente, die weit von der Komik des Stotterers entfernt ist. Leider wird das in der Regel nicht beachtet.

Standard: Was gibt es aus Ihrer Sicht außerdem zu korrigieren?

Harnoncourt: Smetana gibt in seiner Partitur Tempoangaben, und man weiß aus Rezensionen ziemlich genau, wie lange er für einzelne Nummern in der Oper gebraucht hat. Das wird oft auch von den versiertesten tschechischen Dirigenten nicht eingehalten. Stattdessen haben sich auch hier Gewohnheiten eingeschlichen - so wie bei der Figaro-Ouvertüre. Und dann spielt man das halt so.

Standard: Was sich wie ein roter Faden durch Ihre Arbeit und das Sprechen über Ihre Arbeit zieht, ist die Beseitigung solcher Missverständnisse.

Harnoncourt: Ich glaube nicht, dass das, was ich mache, frei von Missverständnissen ist. Große Kunst beruht darauf, dass sie von jeder Generation anders gesehen wird und dass sie verschiedene Blickwinkel erlaubt.

Standard: Sie haben ja wie kein anderer die musikalischen Quellen neu befragt und neu interpretiert. Gibt es auch künstlerische Entscheidungen, die sich nicht begründen lassen?

Harnoncourt: Die letzte Instanz ist in moralischen Fragen das Gewissen. In der Kunst entspricht dem der eigene Geschmack, die eigene Beurteilung. Wenn ich mir anhand der Quellen ein Bild gemacht habe, dann muss ich eine Brücke zur heutigen Zeit schlagen, muss fragen, was der Grund ist, es heute noch aufzuführen. Sonst bin ich ein Museumswärter. (Daniel Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 1. 6. 2011)