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Baby-Entertainment mit Kinderwagen-Raserei: Schon in den 1960er-Jahren war klar, dass der Westen deutlich weniger gebärfreudig war als der Osten und Süden.

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Frauen bekommen heute später und weniger Kinder, viele verzichten überhaupt auf Nachwuchs. Eine Situation, die jener vor hundert Jahren vergleichbar ist, auch wenn die Ursachen damals andere waren. Seit dem Babyboom in den 1960er-Jahren ist die "rohe" Geburtenrate in Österreich, also die Zahl der Lebendgeborenen je 1000 Menschen, von 19 auf neun gesunken. Ein vergleichbarer Einbruch in der Fertilität beunruhigte bereits vor hundert Jahren die Statistiker.

Denn auch damals - zwischen 1870 und 1914 - sank die rohe Geburtenrate von 35 auf 25 um zehn Punkte - das allerdings nur in den deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie. Was waren die Ursachen, und warum war die Situation in den slawischen und romanischen Regionen anders? "Hier ging es vor allem um eine Kosten-Nutzen-Frage", ist der Grazer Wirtschaftshistoriker Peter Teibenbacher überzeugt. "Früher arbeitete das Gros der Menschen in der Landwirtschaft, wo Kinder als billige Arbeitskräfte gefragt waren." Durch die zunehmende Industrialisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte. Mit einem Arbeitergehalt aber konnte man nicht viele Kinder ernähren, und auch die Wohnungen waren für große Familien zu klein.

"Außerdem durfte der Nachwuchs nicht mehr zum Familieneinkommen beitragen, da die Kinderarbeit in Österreich sukzessive verboten wurde", erklärt Teibenbacher, der sich in seinem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten "Graz Austrian Fertility Project - GAFP" mit diesem ersten großen demografischen Übergang in Österreich beschäftigt.

Anderes Heiratsverhalten

Erstaunlicherweise war die Geburtenrate aber auch in den agrarisch geprägten deutschsprachigen Gebieten der Monarchie deutlich niedriger als in den slawisch- oder romanischsprachigen.
Warum? "Die Menschen in den östlichen und südlichen Regionen hatten ein anderes Heiratsverhalten", erklärt der Wirtschaftshistoriker. "Es heirateten mehr Menschen, und sie heirateten jünger." Dies sei nicht zuletzt auf ein Erbteilungsrecht zurückzuführen, das nicht nur die ältesten Söhne - gelegentlich auch Töchter - der Bauern bedachte. Die Geschwister blieben meist relativ gleichberechtigt auf dem Hof, halfen in der Wirtschaft mit und bekamen selbst Kinder. "Die sozialen Beziehungen waren generell weniger hierarchisiert", sagt der Forscher.

Anders in den deutschsprachigen Gebieten, wo die "Gesindewirtschaft" vorherrschte. Der älteste Sohn als Hoferbe hätte seine Geschwister auszahlen müssen, hatte aber meist nicht die Mittel dafür. Deshalb gingen die nicht erbberechtigten Söhne und Töchter der Bauern oft auf andere Höfe, wo sie sich als Knechte und Mägde verdingen mussten. Zwar war auch ihnen seit 1868 per Gesetz die Heirat erlaubt, praktisch war dies aber meist unmöglich, da sie keinen eigenen Grundbesitz und meist nicht einmal eigenen Wohnraum hatten. Die Erben wiederum hatten wegen der späten Hofübergabe meist bereits ein höheres Heiratsalter.

Dieses unterschiedliche Heiratsverhalten und die damit verbundenen Geburtenraten bildeten lange eine nicht politische Grenze zwischen West- und Osteuropa. In den 1960er-Jahren zog der Demograf John Hajnal eine imaginäre Linie von St. Petersburg bis nach Triest und trennte damit den weniger ehe- und gebärfreudigen Westen und Norden vom bedeutend fruchtbareren Osten und Süden. "Zwar gibt es mittlerweile Modifizierungen dieser demografischen Grenzlinie, doch die grundsätzlichen Unterschiede im Heirats- und Fortpflanzungsverhalten zwischen dem europäischen Westen und Norden einerseits und dem Osten und Süden andererseits sind ein unwiderlegbares Faktum", sagt der Grazer Wissenschafter.

Viele uneheliche Kinder

Eine Folge der Gesindewirtschaft in den deutschsprachigen Gebieten mit ihren restriktiven Heiratsvorgaben war eine große Zahl unehelicher Geburten. „Diese wurden aber akzeptiert, da man die Kinder als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gut brauchen konnte", weiß Teibenbacher. "Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Industriebetriebe die Knechte und Mägde von den Höfen wegzulocken begannen und Arbeitskräfte fehlten."

Tatsächlich hat sich in bestimmten Gegenden so etwas wie eine "Tradition der Unehelichkeit" gebildet: So gehören etwa das obersteirische Murau oder das kärntnerische St. Veit noch heute zu den Orten mit der höchsten Rate an unehelichen Geburten. "Wie vor hundert Jahren sind uneheliche Kinder auch heute noch meist ein Unterschichtphänomen", ist Peter Teibenbacher überzeugt. "Nach wie vor sind die meisten unverheirateten Mütter eher schlecht gebildet, ohne guten Job und wohnen nicht selten bei den Eltern."

Da unehelich geborene Kinder heute nicht mehr diskriminiert werden, ist die Unehelichkeit gegenwärtig wieder so hoch wie vor einem Jahrhundert. In den nicht deutschsprachigen Gebieten der Monarchie mit ihrer verhältnismäßig egalitären Heiratskultur wurden uneheliche Geburten dagegen viel stärker diskriminiert, da die Option des Heiratens ja weitgehend problemlos offenstand. Deshalb kam es dort auch häufiger zu Kindesweglegungen und Abtreibungen.

Existiert diese Fertilitäts-Trennlinie zwischen Ost und West, Nord und Süd heute noch? "Nein. Obwohl in den sozialistischen Ländern die Fertilität auch nach 1945 noch lange höher war als im Westen, kam es durch den Zusammenbruch des Systems 1989 zu einem Rückgang der Geburten. Heute ist die Fertilität etwa gleich", erklärt Teibenbacher. "Auch in den mediterranen Ländern sanken in den 1970er-Jahren die vorher deutlich höheren Geburtenraten drastisch." (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1.6.2011)