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Autorin Brigitte Kronauer: "Die Besinnung auf zeitübergreifende Impulse täte der Literatur not. Man muss deshalb noch lange nicht den Bürgerschreck markieren."

Foto: EPA/Carmen Jaspersen

Standard: In Ihrer Vorlesungsreihe an der Wiener Universität beschäftigen Sie sich unter dem Titel "Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft" u. a. mit der literarischen Avantgarde. Haben Sie sich dieser jemals zugehörig gefühlt?

Kronauer: Ich habe mich in meinen Anfängen ganz dezidiert als Avantgarde empfunden: auch in der Weise, dass ich mich als vergleichsweise einsam empfand. Ich musste mich ziemlich allein durchkämpfen zu einem Schreiben, von dem ich dann der Meinung sein konnte, es ist wirklich meines, und es klingen nicht Kafka oder Schiller durch.

Standard: Wieso diese beiden?

Kronauer: Das sind zwei Extreme, die aber beide möglich gewesen wären damals. Ich musste der Meinung sein, dass das von mir Geschriebene dasjenige ist, was ich wirklich ausdrücken will, weil ich die Wirklichkeit so empfinde. Zudem habe ich mich ziemlich früh für Avantgarde-Strömungen interessiert: Es gab für mich ein Buch, das mir die Lichter aufgehen ließ, und das war das Lyrikbuch - ich selbst bin keine Gedichtschreiberin gewesen - Museum der modernen Poesie, herausgegeben 1960 von Hans Magnus Enzensberger: internationale Poesie, zweisprachig abgedruckt. Das war für mich eine ziemliche Offenbarung, dass man so Literatur schreiben konnte. Das Buch wurde eine Art Bibel für mich. Da aber klar wurde, dass ich eher zur Prosa neige, war es der "nouveau roman". Bei beiden Abteilungen der Literatur ist es die große Einfachheit gewesen, die mich bestach.

Standard: Inwiefern ist der "nouveau roman" eines Claude Simon, eines Alain Robbe-Grillet einfach?

Kronauer: In dem Sinne, dass auf die alten Metaphern verzichtet wurde, auf die alten Betroffenheiten. Man wird natürlich auch im Gymnasium durch die Lektüre geprägt: Die deutsche Nachkriegsliteratur bemühte sich vor allem um die jüngere Vergangenheit, und ich sah kein Durchkommen, das spannend auf mich zu beziehen.

Standard: Ihnen war diese Literatur zu betulich?

Kronauer: Die damalige Avantgarde betrieb einen Gestaltauf- und Abbau mit ganz einfachen Bausteinen. Man konnte jeden ihrer Schritte nachvollziehen. Das verstehe ich unter Einfachheit, die auf alle Arabesken verzichtet, die später durchaus für mich wichtig wurden. Damals hatte ich das Gefühl: Ich stehe nicht auf Sumpf, sondern auf festem Boden! Später, bei Autoren wie Gomringer oder Heißenbüttel, geriet ich doch auch in Gefahr, abzuschalten. Wenn eine Seite zur Gänze mit immer demselben Wort vollgeschrieben ist, und irgendwo ist dann ein einziges abweichendes Wort, dann nimmt man das zwar wahr, aber ...

Standard: Der Ertrag war Ihnen zu gering?

Kronauer: Erstaunlich gering. Ich habe dann auch gemerkt, dass ich doch ganz stark auf eine bestimmte Art von Inhaltlichkeit loswill, auf eine Geschichtendramaturgie, die mich in dieser Art von Literatur nicht mehr zufriedenstellte. Das mag aber auch eine Weggabelung sein, deretwegen ich auch die neuere Lyrik links liegen ließ.

Standard: Mit der Zeit geriet die Avantgarde dann in Misskredit. Es wurde auf "realistisches" Schreiben beharrt.

Kronauer: Das Wegdrängen der Avantgarde habe ich insofern bedauert, weil ich glaube, dass Avantgarde, so wie ich sie verstehe, immer etwas mit Stil und Form zu tun hat. Das hat mich geradezu erbost in der neueren Entwicklung, dass man geglaubt hat, man könne die ganze Moderne vergessen! "Interessiert uns nicht!" Man müsse der Jugend den Zugang erleichtern, hieß es. Ich stimme dem nur zum Teil zu. Das Besinnen auf zeitübergreifende Impulse täte wirklich not.

Standard: Sie haben sich anlässlich der Überreichung des Büchner-Preises auf verblüffende Weise mit Büchners "Woyzeck" beschäftigt: Da gebe es ein gedemütigtes Wesen, das spreche unentwegt so, als wäre es erleuchtet. Rührt aus diesen Quellen Ihre Beschäftigung mit Menschen der "mittleren", angeblich schmerzberuhigten Klassen, deren Vertreter das Personal Ihrer Romane ausmachen?

Kronauer: Ich fand an Woyzeck die Idee wesentlich, dass in den Leuten sehr viel mehr steckt, als ihnen die soziale Rolle vorschreibt. Dass ist übrigens auch die Beobachtung in meinem Gegenwartsleben. "Jeder Mensch ist ein Abgrund": Dieser Satz ist für mich sehr wichtig. Ich empfinde die mittleren Bürger nicht als harmlose Existenzen. Weder was ihre Dämonien angeht, noch was an Empfindlichkeiten, Gedanken und Schmerzen in ihnen steckt. Es ist sicher keine Entscheidung gewesen zu sagen, ich beschäftige mich jetzt mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit! Einen solchen Satz habe ich in meinem ganzen Leben nicht gedacht. Ich gehe ganz animalisch danach vor: Was springt mich an, was reizt mich?

Standard: Wobei Ihnen Bosheit wichtig wäre?

Kronauer: Da wirkt eine merkwürdige Schizophrenie: Es gibt die Liebende, aber es gibt auch die andere. Man muss aufpassen: Ich weiß genau, dass reine Boshaftigkeit etwas sehr Unfruchtbares ist. Ich bin der Überzeugung, dass in jedem Menschen Finsternis drinsteckt. Mitscherlich hat einmal gesagt, Frauen seien die besseren Menschen. Einer der dümmsten und unkundigsten Sätze, die ich je gehört habe! In der sanftesten Frau steckt eine Masse von Gift. (Ronald Pohl, DER SANDARD/Printausgabe 11./12./13.5.2011)