Die Bretter, die die USA in Afghanistan bohren, sind reichlich dünn geworden: Dass es in diesem Krieg Washington einmal darum ging, die Feinde der USA - die Taliban, Al-Kaida - zu besiegen und in Afghanistan eine völlig neue Realität zu schaffen, will heute niemand in der US-Regierung mehr wissen. Laut den Worten eines US-Präsidentensprechers besteht der Erfolg, der die Einleitung des von US-Präsident Barack Obama spezifizierten Abzugs erlaubt, in einer "Schwächung" dieser Gruppen. Wobei es besonders in der US-Armee Stimmen gibt, die fürchten, dass diese Schwächung nicht einmal den Prozess des Abzugs überdauert, geschweige denn die erste Zeit danach.

Der 2009 erfolgte "Surge" von 30.000 Mann wird, US-wahlkampfbedingt, bis Herbst 2012 zurückgenommen - entgegen den Ratschlägen der meisten Militärs, denen allerdings die Aufstockung selbst bereits zu schwach war. Auf alle Fälle sind die USA längst bei einer "kleinen" Afghanistan-Lösung angekommen: Nicht mehr Befriedung und Nation-Building, sondern Präsenz - wie im Irak wird man versuchen, über das Abzugsdatum hinaus mit einer kleinen Truppe vor Ort zu bleiben - und punktuelles "antiterroristisches" Eingreifen sind die Zukunft.

Die Gewichtung hat sich auch insofern dramatisch geändert, als diese Präsenz immer mehr dem Nachbarland Pakistan gilt, von dem nach Meinung der meisten Strategen für die Region und für die USA heute eine größere Gefahr ausgeht als von Afghanistan. Je schlechter das Verhältnis zwischen Washington und Islamabad wird, desto wichtiger sind den USA ihre Stützpunkte im Osten Afghanistans, von denen aus sie Zugriff in Pakistan haben. Nicht nur mit Drohnen, sondern nötigenfalls auch mit Kommandos wie jenem, das Osama Bin Laden ausgeschaltet hat.

Mit der US-Armee und der Nato werden nicht nur Soldaten abziehen, sondern auch andere Einrichtungen, die einmal Teil der Raison d'être der US-Intervention in Afghanistan waren: die berühmten PRTs (Provincial Reconstruction Teams), durch militärische Einheiten abgesicherte und deshalb bei zivilen Hilfsorganisationen umstrittene Wiederaufbaueinheiten, die seit zehn Jahren im ganzen Land ihre Arbeit geleistet haben. Gewisse Gebiete Afghanistans werden ins Vergessen zurückfallen, aus dem sie der durch 9/11 ausgelöste Krieg geholt hat.

Und mit den Militärs und den PRTs werden Arbeitsplätze gehen - und ausländische Beobachter, die für verletzliche Gruppen, wie etwa die Frauen, eine gewisse Sicherheit darstellen. Wie Afghanistan in zehn Jahren aussehen wird, das wagt heute niemand zu prognostizieren. Und es scheint auch kein Thema mehr zu sein.

Ob den USA das beschert sein wird, was Obama jetzt ankündigt - dass sie sich zuallererst jetzt einmal um sich selbst kümmern werden -, ist jedoch ungewiss. Vielleicht gelingt es ja tatsächlich, sich von Afghanistan zu lösen, so wie man Somalia in den 1990er-Jahren völlig sich selbst überließ, weil es strategisch nicht wichtig genug war. Aber wenn die somalische Krankheit, zu der auch Al-Kaida gehört, den Jemen und damit die Arabische Halbinsel erreichen sollte, werden die amerikanischen Karten wieder neu gemischt werden. Und auch der Iran und der Hegemonialstreit am Persischen Golf könnten Barack Obamas Biedermeier-Ambitionen einen Strich durch die Rechnung machen. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2011)