Für den Philosophen Peter Singer (hier in der Doppelwendeltreppe der Grazer Burg) können Menschenaffen dabei helfen, "die falsche Kluft zu überbrücken, die wir zwischen uns und den anderen Tieren errichtet haben".

Foto: Barbara Reiter

STANDARD: Sie wurden Anfang Juni in Frankfurt mit dem Ethikpreis der Giordano-Bruno-Stiftung ausgezeichnet. Im Vorfeld hatte der Behindertenbeauftragte der deutschen Bundesregierung dagegen protestiert. Wie lief die Veranstaltung?

Singer: Es stimmt, dass ein CDU-Politiker sich dagegen aussprach und verhindern wollte, dass die Ehrung in der Deutschen Bibliothek stattfand. Aber die Reaktion der Bibliothek war, dass man beim Prinzip der Meinungsfreiheit keine Kompromisse machen dürfe, weil man sonst letztlich bei der Bücherverbrennung enden würde - und so weit sei man in Deutschland schon einmal gewesen. Die Feier selbst verlief nicht gerade ruhig, sondern fast enthusiastisch. Es sind sehr viele Leute gekommen, die mir und meiner Kollegin Paola Cavalieri sogar im Stehen applaudierten.

STANDARD: Sie werden vor allem dafür kritisiert, dass Sie in Fragen der Sterbehilfe extrem liberale Positionen vertreten. Hat es Ihnen Ihre Herkunft - Ihre Vorfahren stammen aus Wien, und drei Ihrer vier Großeltern sind im KZ gestorben - womöglich erleichtert, so unbefangen über diese Themen nachzudenken?

Singer: Das ist möglich. Wichtiger war aber wohl, dass ich in Australien aufwuchs und dort sowie in England meine philosophische Ausbildung erhielt. In diesen beiden Ländern kann man über Euthanasie diskutieren, ohne sofort mit den Nazi-Verbrechen konfrontiert zu werden, weil der Begriff auch etwas andere Konnotationen hat als hier. Ich wäre ja nie auf den Gedanken gekommen, dass meine Thesen Gemeinsamkeiten mit jenen des Nationalsozialismus haben könnten. Diesen Zusammenhang stellten erst vor vielen Jahren meine deutschen Kritiker her - was auf Missverständnissen beruht.

STANDARD: Es scheint, als ob sich diese Proteste etwas gelegt hätten. Liegt das an Ihnen oder den Kritikern?

Singer: Ich denke, dass es heute ein etwas anderes Diskussionsklima gibt als früher. Die Meinungsverschiedenheiten sind zwar immer noch ganz ähnlich, aber es gibt mehr Verständnis dafür, dass diese Themen diskutiert werden können und sollen. Die bioethischen Probleme verschwinden ja nicht, wenn man sie nicht diskutiert. Und aufgrund der verbesserten biomedizinischen Möglichkeiten gibt es heute auch eine größere Dringlichkeit, diese Themen zu diskutieren.

STANDARD: Woran denken Sie da?

Singer: Es gibt heute vor allem viel bessere genetische Diagnosemöglichkeiten: Die Tests umfassen viel mehr Krankheiten und sind viel billiger geworden. In allen westlichen Ländern gehört das mittlerweile zur Routine, auch bei vorgeburtlichen Untersuchungen. Und die überwiegende Mehrzahl der Frauen, bei denen Tests eine schwere Missbildung anzeigen, entscheidet sich dafür, die Schwangerschaft zu beenden. In gewisser Weise hat die Wirklichkeit viele Diskussionen überholt.

STANDARD: In Österreich ist man in vielen Fragen immer noch am Diskutieren - etwa bei der Präimplantationsdiagnostik, also beim genetischen Testen von befruchteten Eizellen vor der Einpflanzung in den Körper der Frau. Gibt es für Sie Grenzen bei diesen Tests oder sollte einfach alles erlaubt werden, also etwa auch die Auswahl des Geschlechts?

Singer: Ich denke, dass es vernünftig wäre, bestimmte Regulierungen zu haben. Was die Wahl des Geschlechts anbetrifft, muss man differenzieren: Wenn es darum geht, dass mit dem Geschlecht auch das spezielle Risiko von Erbkrankheiten in der Familie einhergeht, dann sollte das erlaubt sein. Womöglich könnte man es auch zulassen, wenn Ehepaare bereits einen Buben haben und ein Mädchen wollen - und umgekehrt. Das wäre dann auch kein Eingriff in die gesellschaftliche Geschlechterverteilung. Was in Teilen Asiens passiert, wo vielfach weibliche Föten abgetrieben werden, sollte aber jedenfalls vermieden werden.

STANDARD: Ein anderes, mehr oder weniger heiß diskutiertes Thema ist Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Sehen Sie diesbezüglich Probleme?

Singer: Nein, ich sehe gerade auch im Hinblick auf die Gewinnung solcher Stammzellen keine Hindernisse. Allein in den USA gibt es rund 400.000 eingefrorene Embryonen, die von ihren Eltern quasi aufgegeben wurden und nicht mehr benötig werden. Das wäre mehr als genug für die Forschung.

STANDARD: Während Sie bei den Stammzellen kein Problem sehen, sind Sie in Sachen Tierversuche für die Forschung sehr strikt.

Singer: Das Problem bei den Tierversuchen besteht darin, dass den Interessen der Tiere dabei überhaupt keine Rechnung getragen wird - ganz im Gegensatz zu klinischen Versuche mit menschlichen Patienten. Ich denke, dass auch Tiere ein Interesse haben, nicht zu leiden. Aber das wird überhaupt nicht berücksichtigt.

STANDARD: Läuft Ihre Haltung nicht darauf hinaus, dass man Tierversuche überhaupt verbieten sollte?

Singer: Nein, es mag schon einzelne Fälle geben, wo die Bedeutung der Forschung so groß ist, dass man das in Kauf nimmt - wobei es immer darum gehen muss, das Leid der Tiere möglichst gering zu halten und sich möglichst gut um sie zu kümmern. Aber das sollte man bei der Zulassung solcher Versuche vorher immer sicherstellen. Bei der gegenwärtigen Praxis wird das jedoch viel zu wenig berücksichtigt. Ich denke, dass man sich jeden entsprechenden Forschungsantrag im Hinblick auf dese Frage genau anschauen und von Fall zu Fall entscheiden muss.

STANDARD: Es gibt doch bereits Ethikkomitees, die das absegnen müssen. Reichen die nicht?

Singer: Ich sage nicht, dass es in dem Bereich nicht eine Reihe von Fortschritten gegeben hätte, seit ich in den 1970er-Jahren darüber zu schreiben begonnen habe. Ich denke aber, dass dem Interesse der Tiere in solchen Komitees nach wie vor kein ausreichendes Gewicht gegeben wird. Diese Gremien sind in erster Linie mit Forschern besetzt oder Freunden von Forschern, für die Tierversuche etwas Selbstverständliches sind.

STANDARD: Gelten Ihre Forderungen für alle Versuchstiere gleichermaßen?

Singer: Entscheidend ist die Fähigkeit, Leid zu empfinden, und diesbezüglich gibt es natürlich ein Kontinuum. Ganz klar ist, dass Säugetiere und Vögel Leid und Schmerz empfinden können sowie Wirbeltiere ganz generell. Es gibt aber sicher auch Nicht-Wirbeltiere, die leiden können wie etwa der Oktopus. Bei Insekten scheint das - nach allem, was wir aus ihrem Verhalten schließen können - hingegen nicht so zu sein. Insofern bin ich nicht dagegen, dass etwa an Drosophila geforscht wird.

STANDARD: Wissen wir schon genug darüber, ob und wie Tiere Leid empfinden?

Singer: Nein, da gibt es noch viel zu erforschen. Und ich bin mir auch fast sicher, dass wir noch viel mehr tierische Fähigkeiten entdecken werden - sowohl, was ihr Bewusstsein betrifft wie auch ihre Fähigkeit, Leid zu empfinden. Ich denke, dass wir in den nächsten Jahren von den Neurobiologen noch viel Neues über tierisches Verhalten lernen werden.

STANDARD: Sie setzen sich ganz besonders für den Schutz von Menschenaffen ein, denen Sie im Rahmen Ihres Great Ape Projects sogar Grundrechte zubilligen. Wie weit ist man da bei der Umsetzung?

Singer: Ich denke, dass es auch beim Umgang mit Menschenaffen einigen Fortschritt gegeben hat. So ist in den meisten Länder - die USA sind eine Ausnahme - die Forschung an Menschenaffen verboten worden. Auch in Österreich ist das gelungen, wo es ein großes Forschungsprogramm gegeben hat. Das Great Ape Project, das ich mit Paola Cavalieri gegründet habe und für das wir den Ethikpreis bekommen haben, hat da gewiss ein wenig geholfen. Aber es ist noch viel zu tun.

STANDARD: Was ist mit Menschenaffen in den Zoos? Darüber gab es rund um die Preisverleihung in Frankfurt einige Diskussionen.

Singer: Ich denke nicht, dass wir Menschenaffen im Zoo zur Schau stellen sollten, damit die Zoobesucher sie anstarren können. Es gibt eine gewisse Anzahl von Menschenaffen, die in Gefangenschaft leben und die man auch nicht mehr auswildern kann, da sie in freier Wildbahn nicht überleben würden. Deshalb ist es legitim, diese Tiere unter den bestmöglichen Bedingungen zu halten. Leider wird dem Wohlergehen der Tiere in vielen Zoos und Tierparks immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sollten wir uns fragen, ob die Öffentlichkeit diese Tiere betrachten darf.

STANDARD: Warum nehmen Menschaffen in ihren Tierschutzaktivitäten eine so privilegierte Stellung ein?

Singer: Grundsätzlich geht es mir darum, für das Wohl aller Tiere einzutreten, die leiden können. Die Menschenaffen können aber besonders gut dabei helfen, diese falsche Kluft zu überbrücken, die wir zwischen uns und den anderen Tieren errichtet haben. In meinen jüngeren Arbeiten habe ich mich aber sehr viel mehr mit Tieren beschäftigt, die in der Agroindustrie und unter Intensivhaltung leiden. Es gibt in einer einzigen Legehennenbatterie wahrscheinlich mehr Leid als in allen Schimpansengehegen in Österreich zusammen.

STANDARD: Sie sind konsequenterweise und seit vielen Jahrzehnten strikter Vegetarier. Mittlerweile scheint einen allgemeinen Trend in diese Richtung zu gehen. Wie erklären Sie sich das?

Singer: Ich denke, dass es vor allem drei Gründe gibt, warum sich immer mehr Menschen dafür entscheiden, kein oder weniger Fleisch zu essen. Erstens spielen sicher die ethischen Erwägungen betreffend das Wohlergehen der Tiere eine Rolle. Zum zweiten gewinnt der Gesundheitsaspekt an Bedeutung und das Wissen, dass bestimmte Fleischprodukte zu Krankheiten beitragen können. Ein dritter Grund, der immer wichtiger wird, ist wohl der Klimawandel und das Wissen, dass die Fleischproduktion dazu beiträgt.

STANDARD: Sie referierten kürzlich in Graz auf Einladung Ihres Kollegen Lukas Meyer über Klimawandel und die ethischen Verpflichtungen der Wohlhabenden. Diese Verpflichtungen sehen mittlerweile viele Menschen. Was ist Ihr spezieller Beitrag zu dem Thema?

Singer: Dass der Umgang mit dem Klimawandel eine ethische Frage ist - und zwar die, wie wir mit beschränkten Ressourcen umgehen. Es ein bisschen so wie mit dem alten Problem des Kuchens, den sich zehn Leute teilen wollen, aber alle wollen ein Sechstel. Man kann zehn Leuten aber nicht je ein Sechstel geben. Ähnlich ist es mit der Kapazität unserer Atmosphäre, Treibhausgase aufzunehmen. Also muss man sich bestimmte faire Prinzipien überlegen, wie viel jeder von uns beitragen darf.

STANDARD: Wie lässt sich das mit Ihrer Ethik begründen?

Singer: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir sehr wahrscheinlich dazu beitragen, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Millionen von Menschen zu Klimaflüchtlingen werden und viele deshalb sterben werden. Dafür sind wir jetzt verantwortlich. Und deshalb gibt es eine moralische Notwendigkeit, dass wir unsere Lebensweise umstellen.

STANDARD: Haben Sie keine Hoffung, dass dank neuer Technologien der Energiegewinnung das gar nicht nötig sein könnte ?

Singer: Ich bin recht optimistisch, dass uns solche Technologien irgendwann dabei helfen können, klimaneutraler zu leben. Die Frage ist nur die des Zeitrahmens: Wenn wir mit den Technologien erst in 50 Jahren so weit sind, dann könnte es zu spät sein, weil es irreparable und unumkehrbare Schäden gibt. Das heißt, wir müssen auch schon vorher versuchen, die Treibhausgase zu reduzieren.

STANDARD: In „Leben retten", Ihrem letzten auf Deutsch erschienenen Buch argumentieren Sie dafür, den Ärmsten der Welt zu helfen. Wenn freilich die ganze Welt unser Wohlstandsniveau erreichen sollte, dann wäre das wohl besonders schlecht für das Klima.

Singer: Ich argumentiere nicht dafür, dass alle den gleichen Lebensstandard haben sollen. Mir geht es darum, wie man die nach Definition der Weltbank „extrem armen Menschen" aus dieser extremen Armut herausbringt. Das ist für mich die Priorität: den Lebensstandard der rund 1,4 Milliarden Ärmsten zu heben, damit sie keinen Hunger leiden müssen, Trinkwasser, Schule für die Kinder und eine einfache medizinische Versorgung haben. Klar ist aber auch, dass Welt nicht überleben kann, wenn mehr als zwei Milliarden Chinesen und Inder pro Kopf so viel Treibhausgas ausstoßen wie die Europäer oder Nordamerikaner. Deshalb müssen wir zeigen, dass es uns mit der Reduktion der Treibhausgase ernst ist und wir eine internationale Vorbildrolle erfüllen.

STANDARD: Alle Themen, die Sie als Ethiker behandeln, scheinen von einer gewissen Dringlichkeit zu sein. Wie treffen Sie Ihre thematische Auswahl: nach der gesellschaftlichen Relevanz oder danach, was in der akademischen Welt angesagt ist?

Singer: Die akademische Welt ist mir nicht so wichtig, was auch daran liegt, dass ich mit meiner Professur in Princeton längst etabliert bin. Es ist mehr eine Kombination aus der Wichtigkeit des Themas und dass ich etwas Neues und Anderes zu dem Thema beizutragen habe, das noch nicht gesagt wurde. Ich bin immer noch sehr stark mit der Frage der Tierrechte befasst, aber ich habe in den vergangenen Jahren einfach auch schon sehr viel darüber geschrieben und will mich nicht wiederholen. Über den Klimawandel aus ethischer und philosophischer Perspektive habe ich noch vergleichsweise wenig geschrieben.

STANDARD: Sie lehren und forschen seit 1999 an der Princeton University. In so ziemlich allen Dingen, für die Sie eintreten, sind die USA hinten nach. Motiviert oder frustriert Sie das?

Singer: Ich empfinde das eher als Motivation und Notwendigkeit, über all diese Dinge öffentlich zu sprechen und zu versuchen, Einfluss zu nehmen. Dass ich an einer Eliteuniversität wie Princeton arbeite, hilft dabei natürlich. Der öffentliche Diskurs ist in den USA sehr hierarchisch strukturiert, und natürlich werden Leute von Harvard, Yale oder anderen Eliteeinrichtungen eher gehört. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.06.2011)