Frankfurt/Main - Zu den jüngsten Überlegungen von Bundespräsident Thomas Klestil über seine verfassungsmäßigen Vollmachten bei der Abberufung der Regierung schreibt am Donnerstag die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ):

"In Österreich droht sich der Streit um die Rentenreform zur Regierungskrise auszuwachsen. Bundespräsident Klestil, der sich auf eine Zweidrittelmehrheit (bei der Wiederwahl 1998, Anm.) beruft, hat wieder einmal dem Bundeskanzler Schüssel den Kampf angesagt. Klestil droht, den Kanzler zu entlassen; er wirft Schüssel vor, die 'Harmonie', das österreichische Konsensmodell, zu gefährden. Das ist zwar nicht mehr in Kraft, seit Schüssel vor drei Jahren die ÖVP aus der immerwährenden Koalition mit der SPÖ gelöst hat und mit den 'Freiheitlichen' regiert. Dass diese nun Schüssels Pensionsreform zu Fall bringen könnten (wenn Haider sich durchsetzt), will Klestil gegen den Regierungschef ausnützen.

Eine seltsame Harmonie, in der bei jeder Gelegenheit der Staatspräsident dem Regierungschef das Leben sauer macht. Aber wie nebenbei hat Klestil durch seine jüngsten Äußerungen den Konsensbegriff auf das Rentensystem übertragen. Wer wollte ihm da widersprechen! In Österreich, Frankreich und Deutschland pochen derzeit die gewerkschaftlichen Hüter längst weitenteils eingebildeter Besitzstände auf den Konsens. Aber das tun die Lemminge auch..."

"Delo": Klestil meinte es höchstwahrscheinlich ernst

Bundespräsident Thomas Klestil hat es mit seiner Aussage, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) notfalls zu entlassen, nach Ansicht der Laibacher Tageszeitung "Delo" (Donnerstag-Ausgabe) höchstwahrscheinlich ernst gemeint. In einem Artikel mit dem Titel "Wirbel nach Klestils Aussagen" schreibt das linksliberale Blatt, der Erhalt der "informellen" politischen Ordnung Österreichs sei für den Bundespräsidenten offenbar so wichtig, "dass er sogar über einen Schritt nachdenkt, dessen Folgen sehr weit reichend wären". Auch habe er als "erfahrener Politiker" berücksichtigen müssen, dass er mit seiner Äußerung auf erbitterten Widerstand stoßen würde.

"Um die gesellschaftliche Harmonie in Österreich wieder herzustellen, plant Bundespräsident Thomas Klestil im letzten Jahr seiner Amtszeit, seine verfassungsrechtlichen Möglichkeiten völlig auszuschöpfen und aktiver in die Politik einzugreifen. Teilweise hat er mit der Verwirklichung dieser Pläne schon begonnen, als er Bundeskanzler Wolfgang Schüssel regelrecht zu einem Runden Tisch zur Pensionsreform unter Vorsitz des Bundespräsidenten gezwungen hat. (...) Im Gespräch mit der 'Neuen Zürcher Zeitung' hat er noch einige Gedanken geäußert, die in der österreichischen Presse so klar und scharf noch nicht zu lesen waren. (...)

Zum ersten Mal hat Bundespräsident Klestil die Möglichkeit erwähnt, Bundeskanzler Schüssel 'abzusetzen' und vor dem Hintergrund der Spannungen, die schon seit Antritt der ersten Regierung Schüssel im Februar 2000 die Beziehungen zwischen den beiden höchsten Staatsorganen lähmen, hat er es höchstwahrscheinlich ernst gemeint.

Es ist typisch, dass er seine Absichten einer Zeitung aus der Schweiz anvertraut hat, die in Theorie und Praxis der Gesellschaftsformel des Konsenses der österreichischen Formel 'gesellschaftlicher Harmonie' wohl am nächsten steht. Es ist also verständlich, dass Thomas Klestil die österreichische, teilweise informelle, politische Ordnung der Zweiten Republik für einen so wichtigen Wert hält, dass er sogar über einen Schritt nachdenkt, dessen Folgen sehr weit reichend wären. Als erfahrener Politiker, der Kestil ist - er ist bald elf Jahre Bundespräsident - musste er berücksichtigen, dass er auf erbitterten Widerstand stoßen würde. (...)

Ein mögliches Motiv für die Äußerung Klestils war die Absicht, die Front jener zu stärken, die sich für eine Trennung der Pensionsreform von der Abstimmung über das Budget einsetzen, damit die Vertreter der Sozialpartner ohne Druck ihre Reformpläne präsentieren können." (APA)