"Eins oder zwei: Du musst dich entscheiden, zwei Felder sind frei ..."

Foto: Manuel Leal, Duke University

London - Reptilien gelten als Fressmaschinen. Das ist möglicherweise ein haltloses Vorurteil. Zwei US-Biologen der Duke University in Durham, North Carolina, haben die kognitiven Fähigkeiten einer tropischen Eidechsenspezies getestet - mit erstaunlichen Ergebnissen. Die Tiere sind in der Lage, relativ komplexe Aufgaben so gut wie Vögel zu lösen. Für die Wissenschafter eine Überraschung. "Möglicherweise haben auch andere Reptilien vergleichbare Fähigkeiten", sagt Manuel Leal, Erstautor der Studie, zum STANDARD.

Leal und sein Kollege Brian Powell nahmen sechs auf der Insel Puerto Rico gefangene Eidechsen der Art Anoles evermanni und trainierten sie darauf, eine Larve aus einem halb abgedeckten Loch in einem Kästchen zu holen. Für die Tiere kein Problem. In einem zweiten Schritt verschloss der Deckel das ganze Loch. Schon schwieriger, aber vier der Echsen lernten, sich den Leckerbissen zu holen. Entweder nahmen sie den Deckel ins Maul und hoben ihn an, oder sie nutzten ihre Schnauzenspitze als Hebel und schoben das Hindernis zur Seite.

In der dritten Versuchsphase sollten die vier erfolgreichen Eidechsen zwischen zwei abgedeckten Löchern unterscheiden. Die Belohnung befand sich zunächst immer unter dem bereits bekannten blauen Deckel. Den gelb oder blau und gelb gefärbten "Ablenker" ignorierten die Tiere fast immer. Sie ließen sich kaum täuschen. Im vierten Schritt versteckten die Wissenschafter die Larve unter dem ursprünglich falschen Deckel. Zwei der Echsen gelang es nach Enttäuschungen, den Trick zu durchschauen, und steuerten von da an auf den gelb markierten Verschluss zu. Die beiden klugen Reptilien hatten ihre Lernerfahrung umgekehrt und wurden fortan Plato und Socrates genannt.

Das Experiment, dessen Details gestern, Mittwoch, vom Magazin Biology Letters online veröffentlicht wurden, erlaubt mehrere Schlussfolgerungen: Zum einen hat sich gezeigt, dass es bei A. evermanni klügere und weniger lernbegabte Individuen gibt. Des Weiteren sind die Tiere zum Teil in der Lage, erlernte Verhaltensstrategien innerhalb kürzester Zeit einer veränderten Situation anzupassen. Über die evolutionären Wurzeln der Echsenschläue könne man noch keine Aussagen treffen, sagt Manuel Leal.

Aber es gibt eine Vermutung. "Anoles-Arten sind erfolgreich beim Erschließen einer großen Anzahl unterschiedlicher ökologischer Nischen." Auf den karibischen Inseln findet man sie in verschiedensten Lebensräumen. Wenn die Lernfähigkeit von A. evermanni typisch für die Gattung wäre, dann könnte ihre Verhaltensflexibilität das Geheimnis hinter diesem Erfolg sein. (deswa/DER STANDARD, Printausgabe, 14. 7. 2011)