Christian Bauer: "Bis vor der Finanzkrise ist man davon ausgegangen, dass kein Land in Europa pleite gehen kann. Eine Vorstellung, die fundamental nicht wirklich gerechtfertigt gewesen ist."

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Graubereiche gehören zu den Bewertungen von Ratingagenturen. Nicht jedem schmeckt das.

Der Euro zeitweise auf einem Vier-Monats-Tief, Italien im Fokus der Märkte, Griechenland so gut wie pleite – trotz aller Bemühungen der Europäischen Union scheint sich die Euro-Krise immer weiter auszubreiten. Doch einen Flächenbrand wollen die Mitgliedsstaaten unbedingt verhindern. Der Fall Italien zeigt, dass der EU besonders jene Länder Kopfzerbrechen bereiten, die schon zu Beginn der Krise im Fokus standen. Christian Bauer, Währungsexperte und Professor für Monetäre Ökonomik sieht im Gespräch mit derStandard.at durchaus Hoffnung für die klammen Staaten, deckt Graubereiche und Arbeitsweisen der Ratingagenturen auf und sieht einen gravierenden Unterschied zwischen der Schuldenproblematik in den USA und Europa.

derStandard.at: In Europa grassiert der Pleitevirus. Aktueller Patient ist Italien. Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr?

Christian Bauer: Bis vor der Finanzkrise ist man davon ausgegangen, dass kein Land in Europa pleite gehen kann. Mit dem Beitritt zur Währungsunion hatten alle Staaten den Nimbus, vor Zahlungsausfällen gefeit zu sein. Eine Vorstellung, die fundamental nicht wirklich gerechtfertigt gewesen ist, denn faktisch hat sich an den Staatsfinanzen der einzelnen Länder durch die Einführung des Euro nicht viel geändert. Trotzdem glaubte man, dass, sobald ein Land in der Euro-Zone ist, dieselbe Stabilität aufweist wie zum Beispiel das zentrale Land Deutschland.

derStandard.at: Was steckt also hinter dem Gespenst der Ansteckung?

Bauer Wenn ein Land in Europa umfällt und den Bankrott erklärt, fällt auch der zitierte Nimbus. Davor haben die Märkte Angst. Mit allen Mitteln soll deswegen Griechenland vor einem Default (Zahlungsausfall, Anm.) bewahrt werden. Gelingt dies nicht, würden alle anderen bedrohten Länder mehr Zinsen zahlen, weil ihr Risiko höher eingestuft wird.

derStandard.at: Griechenlands Bonität und die anderer Länder wurden mehrfach abgestuft. Wie böse sind eigentlich Ratingagenturen?

Bauer: Ich vergleiche sie gerne mit der Ampel bei der Nahrungsmittelkennzeichnung: Stellen wir uns vor, Ferrero müsste seine Kinderschokolade bewerten: Bei dem Zuckergehalt wird er kaum ein grünes Label draufkleben, das wäre unglaubwürdig. Theoretisch könnte der Konzern die Grenzwerte für bestimmte Zuckerarten, Michzucker, Traubenzucker, raffinierten Zucker und so weiter, so festlegen, dass sich für die Kinderschokolade gerade noch ein gelbes Pickerl ausgeht, während es bei den Konkurrenten vielleicht ein rotes ist. Ähnlich verhält es sich mit den Anreizstrukturen für die Ratingagenturen. Sie können und dürfen keine offensichtlich falschen Labels vergeben, weil auch sie an Glaubwürdigkeit verlieren würden. Natürlich sind auch immer Anreize da, Ratings so zu vergeben, dass bestimmte wirtschaftliche Interessen positiv berücksichtigt werden.

derStandard.at: Entthront diese Tatsache nicht die Ratingagenturen?

Bauer: Nein. Ratingagenturen führen Modellbewertungen durch Hochrechnungen und Wahrscheinlichkeiten durch. Die Modelle sind sehr kompliziert, können aber nicht alle Faktoren, wie zum Beispiel politische Entscheidungen, berücksichtigen. Alles in allem sollte das Ergebnis nicht allzu weit von der Objektivität abweichen. Eine Grauzone bzw. ein Spielraum wird aber immer bleiben.

derStandard.at: Ein Beispiel für einen solchen Graubereich?

Bauer Ob und wann Ratingagenturen sagen, dass eine freiwillige Beteiligung zu einer Bewertung als Default zählt oder nicht, ist ein reines Politikum. In diesem Fall könnten sie für beide Seiten sehr wohl Argumente finden, etwas als Default oder nicht als Default zu bewerten, weil wir uns hier in einem kompletten Graubereich befinden. Die Finanzbranche und die Politik haben sich dadurch selbst in eine Abhängigkeit gebracht – die Ausfallsversicherungen greifen genau dann, sobald die Ratingagenturen einen Default konstatieren. Die Krux: In den Verträgen der Finanzbranche und in Gesetzen ist genau festgeschrieben, wann ein Default erreicht ist – oft aufgehängt an die Bewertungen der Ratingagenturen. Mit anderen Worten: Die Finanzbranche hat sich selbst in die eigenen Verträge geschrieben, daran zu glauben, was die Ratingagenturen sagen.

Politiker haben es nicht anders gemacht: Versicherungen dürfen beispielsweise nur in Anleihen investieren, die mindestens ein sogenanntes "Investment grade" haben, die also genau von diesen Ratingagenturen hinreichend positiv bewertet werden.

derStandard.at: Warum gibt es keine schlechten Bewertungen für die USA?

Bauer: Zum einen beißt man nicht die Hand, die einen füttert. Die Beteiligten sitzen in verschiedenen Vorstandssessel und könnten ihren eigenen Anleihen schaden bzw. ihren Partnern, da die Vernetzung untereinander sehr hoch ist. Zum anderen ist das Rating in den USA letztendlich eine Angabe für die Wahrscheinlichkeit der Vereinigten Staaten, ihre Schulden zurückzahlen zu können. Da die USA ebenso wie die meisten europäischen Staaten in ihrer eigenen Währung verschuldet sind, könnten sie als letzten Ausweg ihr Geld einfach drucken und sie wären die Schulden los. Die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls ist dadurch geringer als in so manchem europäischen Land. Anders im Falle Griechenland: Das Geld wird von der EZB gedruckt und deren Entscheidungen werden von vielen Ländern getroffen.

derStandard.at: Lorenzo Bini Smaghi, Direktoriumsmitglieder der EZB, meinte kürzlich, Italien werde niemals pleitegehen, es ist ein reiches Land, das in der Lage ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Ist er zu optimistisch?

Bauer Vermutlich bezieht sich Herr Smaghi auf die nächsten drei Jahre. Das entspricht dem Zeitrahmen, der für die Finanzmärkte von Relevanz ist. In einem größeren Zeitraum kann sich viel ändern. So war Anfang des vergangenen Jahrhunderts Argentinien das zehntreichste Land der Erde. Wie es 50 Jahre später aussah, ist bekannt. Die Verschuldungsquote von Italien liegt bei 119 Prozent des BIP, eine Zahl, die alles andere als berauschend ist.

derStandard.at: Ist Griechenland noch zu retten?

Bauer Es bestehen durchaus noch Chancen für Griechenland – vorausgesetzt das Land macht den Rest seiner Hausaufgaben: Sparen, starre Strukturen entschlacken und das Steuersystem regulieren. Es kann nicht sein, dass Reiche relativ wenig Steuern zahlen, während große Teile der Bevölkerung zur Finanzierung des Staates herangezogen werden.

derStandard.at: Müsste das Land im Endeffekt nicht sein gesamtes Wirtschaftssystem neu strukturieren?

Bauer: Schon, aber man kann diesen Prozess nicht von oben anordnen. Zudem müssten erst die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden: Korruption gehört eingedämmt, die enorme Bürokratie abgebaut. Kommt dann noch etwas Lohnzurückhaltung und eine etwas höhere Inflationsrate im Euroraum als flankierende Maßnahme hinzu, wäre selbst in Griechenland eine konkurrenzfähige Wirtschaft in schätzungsweise fünf bis zehn Jahren wieder denkbar.

derStandard.at: Ein tragender Pfeiler der griechischen Wirtschaft waren lange Zeit die die Reedereien. Davon ist heute nichts mehr vorhanden. Wieso hat das Land entsprechende Entwicklungen verschlafen?

Bauer Bei anderen Ländern ist mit Eintritt in die Europäische Union ein förmlicher Wirtschaftsprung, Bürokratieabbau und Liberalisierung der Märkte einhergegangen. Den Griechen ist das bis heute nicht gelungen. Nach dem Niedergang der Reedereien kam nichts nach.

derStandard.at: Griechenland aus der Euro-Zone zu werfen, wäre sinnlos?

Bauer: Ja und nein. Es wäre ein riskantes Spiel. Wir haben im Wesentlichen zwei Gleichgewichtssituationen: Beim "guten Gleichgewicht" brauchen alle Länder frisches Geld, um alte Schulden zurückzuzahlen. Dieses bekommen sie von den Märkten, zwar teilweise zu höheren Zinsen, aber immerhin. Solange ein Land nicht in Schieflage gerät, ist das ein nachhaltiger Prozess. Beim "schlechten Gleichgewicht" verweigern die Kapitalgeber die Zufuhr von Geld, weil sie davon ausgehen, es nie zurückzuerhalten.

In dem Moment, wo der Hahn zugedreht ist, die Kredite nicht verlängert werden, ist Schluss. Die durchschnittliche Laufzeit eines solchen Kredits beträgt im Schnitt zehn bis 15 Jahre, was bedeutet, dass ein Land jährlich acht bis zehn Prozent seines Schuldenbestandes überwälzen – also an Krediten holen – muss. Sobald ein Kredit nicht bezahlt werden kann, weil kein neues Geld mehr fließt, müssen alle Kredite gleichzeitig vom Zahlungsausfall betroffen gemacht werden. Die Folge ist der große Zahlungsausfall, der eintreten würde, wenn man Griechenland aus der Währungsunion hinauswirft.

derStandard.at: Was wäre dies für ein Signal für die anderen Länder?

Bauer Schwer zu sagen. Einerseits könnten manche glauben, die Währungsunion ist wieder stabil und im "guten Gleichgewicht", andrerseits könnte es eine Warnung an andere Länder sein, dass ihnen dasselbe wie Griechenland blühen könnte. In diesem Fall stünden die Finanzmärkte vor demselben Risiko wie vor der Währungsunion und würden gleich Richtung "schlechtes Gleichgewicht" gehen, indem sie kein Geld mehr nachschießen. Mit anderen Worten: Der Rauswurf Griechenlands kann denselben Effekt haben wie die Zahlungsunfähigkeit des Landes innerhalb der Währungsunion.

derStandard.at: EU und Europäische Zentralbank spannen einen Rettungsschirm nach dem anderen auf. Wie lange lässt sich dieses Spielchen noch fortsetzen?

Bauer Ein Rettungsschirm verhindert im begrenzten Maße spekulative Attacken. Eine Möglichkeit für Spekulanten ist bekanntermaßen, dass sie über Credit Default Swaps (CDS) darauf wetten, dass Griechenland pleitegeht und - sollten sie Recht behalten – Gewinne daraus erzielen. Bekommen die Länder aber dauerhaft ihre Fiskalpolitik nicht in den Griff, hilft auch kein Rettungsschirm. Er kann eigentlich nur Zeit verschaffen, um im "guten Gleichgewicht" zu bleiben.

derStandard.at: Bei Griechenland hatten wir den Vorschlag schon gehört, jetzt gibt es selbigen für Italien: Das Land könnte doch seine Inseln verkaufen, um Geld in die Staatskasse zu spülen.

Bauer (lacht): Die Idee ist an sich nichts Neues. Vor zehn, zwölf Jahren kam der Ruf auf, Spanien sollte Mallorca an Deutschland als 17. Bundesland verkaufen. Begründung: Die Mehrheit der Bevölkerung ist ja bereits schon deutsch. Doch Spaß beiseite. Völkerrechtlich würde ein solcher Verkauf erhebliche Probleme machen. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 14.7.2011)