Andreas Salcher: "Wir heroisieren gern Einzelne, die bleiben aber oft stecken"

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STANDARD: Sie haben sich immer leidenschaftlich als Aufreger - zuletzt als Schüleranwalt - betätigt. Wir stehen vor vielen globalen, kontinentalen und lokalen Problemen, die sich nicht von selbst lösen. Wutbürger und Ohnmacht sind Phänomene, die damit einhergehen. Wer kann was ändern - und wie?

Salcher: Ja, man müsste schon verrückt sein, wenn man derzeit nicht etwas Angst um die Welt hätte. Es ist schon genug Frust und Verzweiflung da, ich will dazu nicht beitragen. Ich höre so oft, dass Einzelne gegen das System sowieso nichts ausrichten können, das halte ich für grundfalsch. Veränderungen entstehen immer ausgehend von kleinen Gruppen, die durch Vernetzung und Verdichtung zu sogenannten "tipping points" - Kipp-Punkten - führen, an denen akzeptiertes Verhalten plötzlich geächtet wird. In Umweltfragen kann man das deutlich sehen, etwa auch bei den Rauchverboten.

STANDARD: Sie meinen also, wir hätten für die notwendigen Veränderungen keinen eklatanten Mangel an Führung, wie viele sagen, sondern eine Art Mangel an Engagement?

Salcher: Tipping Points entstehen nicht durch Helden oder große Führer, sondern durch eine Vielzahl kleiner Initiativen innerhalb und außerhalb von Organisationen. Wir heroisieren gern Einzelne, die bleiben aber oft stecken - auch in der eigenen Hoffnungslosigkeit. Und: Ja, diesem Land fehlen Führung und eine Leitvision. Es wird ununterbrochen angekündigt und nicht getan. Die Verfehlung der Umweltziele ist eine Schande, auch in der Bildung sehen wir zu, wie wir immer schlechter werden.

STANDARD: Offenbar sind tatsächlich die Schmerzen noch nicht groß genug, um für Veränderungen einzutreten ...

Salcher: Bei immer mehr Menschen sind sie es schon, etwa bei Schülern, Lehrern, Eltern. Die Tabubrüche sind schon da - damit die Masse einen Tipping Point erreicht, muss aber der Einzelne begreifen, dass er betroffen ist - oder die eigenen Kinder.

STANDARD: Wie finde ich die richtigen Verbündeten als nicht ohnmächtiger Einzelner?

Salcher: Indem ich ein, zwei, drei Menschen mit denselben Anliegen suche. Aber dabei dürfen die Machtstrukturen nicht vergessen werden. Nehmen Sie Nike als Beispiel: Der Konzern hat sich bis 2020 null Müll und null Giftstoffe verordnet. Das ging von drei Frauen bei Nike aus, die aber damit nicht zum Vorstandschef gegangen sind, sondern zuerst Verbündete suchten, Good Practice implementierten und so Erfolge vorwiesen. Jetzt ist es Nike-Programm.

STANDARD: Apropos Machtstrukturen: Es zeigt sich ja auch im kleinen Österreich deutlich, dass, je stärker Veränderungswünsche artikuliert werden, das Beharrungsvermögen des sogenannten Systems desto heftiger ist, siehe Schule ...

Salcher: Gerade im größten Stress erscheint immer wieder, dass sich eine mächtige Mehrheit auf Teufel komm raus der Verteidigung des Status quo verschreibt. Darüber soll man sich nicht ärgern, sondern akzeptieren, dass das Teil des Veränderungsprozesses ist. Unsere Gehirne sind so gebaut. Wir haben aber immer die Wahlmöglichkeit, das Richtige zu machen.

STANDARD: Große globale Themen werden für ihre Lösung - Energie, Ernährung, Umwelt - nach Verzicht verlangen. Wie kann man Menschen dazu bewegen?

Salcher: Die Bereitschaft dazu entsteht durch positive Besetzungen, durch das Gefühl, etwas Gutes, Sinnvolles zu tun. Das ist machbar, wir brauchen mehr positive Tipping Points. Jeder Einzelne soll beitragen, dass es zu solchen Kipp-Punkten kommt. Dazu rufe ich auf, daran arbeite ich. (Karin Bauer, DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.7.2011)