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Schreiben als Notwendigkeit: Agota Kristof.

Foto: APA/ EPA/SANDRO CAMPARDO

Wien - "Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich mein Land nicht verlassen hätte? Härter, ärmlicher, denke ich, aber auch weniger einsam, weniger zerrissen, vielleicht glücklich", schrieb Agota Kristof in ihrer "autobiografischen Erzählung" Die Analphabetin (2005). Das Cover des Buches zeigt das Foto eines kleinen Mädchens, es hat eine Stoffmaus in der Hand, zu seinen Füßen liegt ein Stein, ein Huhn geht durch das Bild. Die Umgebung ist ärmlich, das Mädchen trotzig. Es ist die Autorin als Fünfjährige im ungarischen Csikvánd, wo Agota Kristof am 30. 10. 1935 geboren wurde.

Kristof, deren Vater als politisch Verfolgter im Gefängnis saß, macht 1954 Abitur und heiratete ihren Geschichtslehrer. Gemeinsam mit ihm, einem Oppositionellen, und der vier Monate alten Tochter flüchtete sie 1956 nach dem Ungarn-Aufstand nach Österreich, wo ihr als "Wahlheimat" die Schweiz zugewiesen wurde. Dort, in der französischsprechenden Schweiz (im Kanton Neuchâtel), arbeitete Agota Kristof in Textil- und Uhrenfabriken, bevor sie an der Uni Französisch studierte.

Hatte sie ihre ersten Gedichte zunächst auf Ungarisch publiziert (viele davon wurden von Barbara Frischmuth ins Deutsche übersetzt), schreib sie ihre Theater- und Prosatexte ab den 1970er-Jahren in französischer Sprache. Gleich ihr erster Roman Das große Heft (1986) um ein Zwillingsbrüderpaar verschaffte der Autorin den literarischen Durchbruch. Das Buch zeichnet sich durch jene sprachliche Klarheit aus, der die Autorin treu bleiben wird. In mehr als 20 Sprachen wurde der Roman übersetzt, französische Zeitungen schrieben von der "kantigen Wucht" eines "Buches wie Stein".

Schon in diesem Prosaerstling spannte Kristof ihren ebenso persönlichen wie sozialkritischen Themenbogen auf. Exil, Verlassenheit, Krieg und Moral, die Absage an Ideologien sowie die Kritik an einer auf Kaufen und Verkaufen reduzierten Welt ziehen sich thematisch auch durch ihre gefeierten Theaterstücke (Eine Ratte huscht vorbei, 1993).

Agota Kristof wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, 2008 auch mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Das Schreiben war für sie nicht nur ein gedanklicher Möglichkeitsraum, sondern eine Notwendigkeit, das Leiden zu lindern. Diese Möglichkeit ließen gesundheitliche Probleme seit einigen Jahren nicht mehr zu. Am Mittwoch verstarb Agota Kristof in ihrer "Wahlheimat" Neuchâtel - fern von jenem Ort, den das Foto des kleinen Mädchens zeigt. (Stefan Gmünder/ DER STANDARD, Printausgabe, 29.7.2011)