Die Pose täuscht: US-Autor Gary Shteyngart schießt scharf.

 

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Wien - In den Vereinigten Staaten wird in diesen Tagen fieberhaft um einen Ausweg aus der Schuldenkrise gefeilscht. Immer noch gilt es als unwahrscheinliches Szenario, dass es tatsächlich zu einem Staatsinfarkt kommt und die magische Schuldenmarke von 14,3 Billionen Dollar nicht eingehalten wird - welcher verantwortungsvolle Politiker würde dies schon riskieren?

Es ist das Privileg der Literatur, die Dinge ein Stück weiter zu treiben. Im neuen Roman des russischstämmigen US-Autors Gary Shteyngart, Super Sad True Love Story, haben die USA der Zukunft ob ihrer Wirtschaftsmisere den Backlash längst erlitten. Der Dollar ist an den Yuan gekoppelt, weder Demokraten noch Republikaner führen das Land, sondern eine ultranationalistische Einheitspartei. Die führt im Ausland kostenintensive Kriege, lässt die Veteranen jedoch zu Hause dahindarben. Sicherheitsbestimmungen werden ohne Rücksicht auf Bürgerrechte beständig verschärft - beim Staatsbesuch aus China geht man gar so weit, Bürger, die irritieren könnten, zu liquidieren.

Trotz solcher Drastik entwirft Shteyngart eine in ihren Grundzügen erschreckend vertraut wirkende Dystopie. Allerdings tut er dies nicht im Stil eines Realisten, sondern als irrwitzige Groteske, in der alles ein wenig schriller und lauter sein darf als sonst - und nicht selten mit einer Vorliebe für deftigere Zoten. So überrascht es nicht, dass Shteyngart bereits für sein Handbuch für den russischen Debütanten und den Nachfolgeroman Absurdistan sowohl mit dem britischen Brachialkomiker Sacha Baron Cohen als auch mit Vladimir Nabokov verglichen wurde.

Unterschiede ziehen an

An Nabokovs Lolita erinnert auch die zentrale Konstellation des Romans, geht es doch um die Liebe des um viele Jahre älteren Lenny Abramov zur nymphenhaften US-Koreanerin Eunice. Die beiden trennt längst nicht nur das Alter: Abramov wirkt wie ein Übriggebliebener der heutigen Gegenwart. Immer noch liest er vergilbte Bücher, ängstigt sich vorm Tod, arbeitet aber ironischerweise in einer Firma, die ewiges Leben verspricht. Eunice dagegen ist ganz Geschöpf ihrer Zeit. Ständig steckt ihr Kopf in einem Äppärät, einer Art Tabloid-Computer, mit dem sie auf Seiten wie AssLuxury shoppt oder im GlobalTeensAccount mit Freundinnen chattet.

Es ist eine, zumindest anfangs, hartnäckig einseitige Leidenschaft, die Abramov um das Mädchen werben lässt, bis sie tatsächlich nachgibt und in sein New Yorker Apartment einzieht. Die Liebesgeschichte, so supertraurig und wahr sie sich Shteyngart auch wünscht, gerät allerdings zur großen Leerstelle in diesem Buch. Denn so sehr sich der Autor auch bemüht, den Außenseiter Abramov als erbarmungswürdigen Menschen zu porträtieren, so wenig gelingt es ihm, die romantische Gemeinschaft als Alternative zur sich ständig verschlimmernden Realität zu präsentieren.

Umso erfindungsreicher ist der Roman darin, wie er die Verblendung einer Gesellschaft ausgestaltet und einen Jargon zuspitzt, der den kulturellen Verfall der USA auf komische Weise abbildet. So ist Super Sad True Love Story etwa zur Gänze der Tradition des Briefromans verpflichtet, wenngleich man weniger miteinander als übereinander kommuniziert: Abramov notiert seine Erlebnisse in ein Tagebuch, Eunices Sichtweise der Dinge wird indes über ihre Chats und E-Mails abgebildet, in einer Sprache, deren Abkürzungen und Kosenamen Shteyngart recht ungehemmt für Kalauer nutzt.

Am pointiertesten sind jedoch jene Passagen des Buchs, in denen hinter all dem Aberwitz die Fahrlässigkeit aufblitzt, mit der sich die Figuren einer alarmierenden Gegenwart anpassen. Versunken in ihren banalen virtuellen Parallelleben, die sie samt Werbesprüchen live streamen, empfinden sie bei den ersten Anzeichen eines Aufstands den kurzen Kitzel, an einer historischen Wende teilzuhaben. Die wahre Katastrophe aber ist bekanntlich, dass alles immer so weitergeht. (Dominik Kamalzadeh/ DER STANDARD, Printausgabe, 29.7.2011)