Claudia Dietl bei ihrer Ansprache zum 90. Geburtstag von Dagmar Ostermann im Dezember 2010.
Foto: Wladimir Fried

Foto: Wladimir Fried

Claudia war immer die erste, die ihr Sofa anbot. Wenn's sein musste, auch ihr eigenes Bett. Kaum war 2004 die Idee zur Gründung eines Grätzelkomitees im Stuwerviertel geboren, hatten sich auch schon mehr als zwanzig Menschen eingefunden in Claudia Dietls guter Stube, diesem gastfreundlichen Wohn-, Arbeits- und Versammlungsraum, den sich die gelernte Architektin im Erdgeschoss der Arnezhoferstraße 8 eingerichtet hatte. In Claudias Wohnung - und im Sommer in ihrer malerischen Gartensitzecke im Hinterhof - war seither das Stuwerkomitee zuhause. Wenn jemand über die Mailingliste Unterkunft für rumänische GentechnikgegnerInnen, ukrainische MusikerInnen oder französische FilmemacherInnen suchte, dann war Claudia die Erste, die ihr Tor öffnete.

Claudia Dietl, geboren 1959 in Innsbruck, war seit Jahrzehnten untrennbar mit der autonomen FrauenLesbenBewegung verbunden, publizierte viele Artikel zu Frauenleben und Feminismus, arbeitete als Mediatorin mit Frauen österreichweit, diskutierte und moderierte unzählige Male auf Podien, arbeitete mit bei der Zeitschrift AUF und begründetet die Zeitschrift Lila und trotzdem ist im www nur eine Kurzbiografie anlässlich einer Tagung zu finden: "Claudia Dietl: Architektin; tätig im Tiroler Frauenhaus; Publizistin und Aktivistin der Frauenbewegung" - das ist frauengelebtes Understatement.

Aktivistin im öffentlichen Raum

Als Architektin untersuchte Claudia Dietl, wie der gebaute Raum die sozialen Verhältnisse zwischen den Menschen bestimmt. In einer Einladung zur Veranstaltung "Willkommen in der Wüste des Realen" schrieb sie: "Schauen wir uns um: die Stadt - Konkretion eines patriarchalen Ordnungswahns. (...) Wenn unsere Städte zum Vollfüllen des Raumes durch eine Funktionsarchitektur verurteilt sind, wenn sie am Verlust einer Dramaturgie der Illusion und der Verführung leiden, wenn es dann immer noch heißt, es würde auf Bedürfnisse reagiert werden, dann sollte diese Architektur samt ihren Zielsetzungen gerade von jenen eigensinnig belebt werden, für die sie AUCH bestimmt ist: von den Benutzerinnen - sie sind die Akteurinnen."

So war die unermüdlich Aktivistin immer auf der Suche nach Strategien der widerständigen Aneignung des öffentlichen Raumes: Als Trommlerin der Frauensambagruppe "Ramba-Samba" ließ sie Verkehrsflächen zu Tanzflächen werden. Oft traf man sie mit einer Rolle Plakate unter dem Arm, unterwegs um den allgegenwärtigen und allzu oft sexistischen "KAUF MICH!"-Botschaften die eine oder andere nachdenkliche Nachricht von Städtebewohnerin zu Städtebewohnerin entgegenzusetzen.

Claudia war sehr sensibel für Ungerechtigkeiten. Die Gemeinheiten, die sie bei der Arbeit im Innsbrucker Frauenhaus oder in der Schubhaftbetreuung erlebte, bedrückten und empörten sie zutiefst. Und sie ließ der Empörung Taten folgen. Mit großer Leidenschaft war sie Agitatorin, Aufrührerin, Anstachlerin zu Zivilcourage und Engagement.

Wer mit Claudia zu tun hatte, weiß: Sie war Herz und Kopf der Initiativen, derer sie sich annahm. Kampagnen gegen die immer restriktivere Fremdenpolitik und für die sofortige Abschaffung der Schubhaft, gegen die Gentrifizierung des Viertels und für die Erhaltung des Kinderfreibades am Max-Winter-Platz: Claudia war dabei, schrieb Texte, Aufrufe, lief durch die Häuser und verteilte Flugzettel, organisierte MitstreiterInnen, Biertische und Getränke.

Wunschprojekt "Selma-Steinmetz-Straße"

Claudia Dietl war der Motor, der darauf drängte, jedes Jahr wieder ein Straßenfest für die Umbenennung der Arnezhoferstraße (Anm.: Johann Arnezhofer war ein Pfarrer im 17. Jahrhundert, der als antisemitischer Hass-Prediger in Erscheinung trat und die Deportation der jüdischen Bevölkerung der heutigen Leopoldstadt organisierte) in "Selma-Steinmetz-Straße" (eine jüdische Widerstandskämpferin aus Wien) zu organisieren. Sie schrieb: "Gerade im Stuwerviertel ist es eine Notwendigkeit, im Stuwerviertel, wo viele Migranten und Migrantinnen leben, wo es das sogenannte 'Prostitutionsproblem' gibt, wo die Polizei laufend Razzien durchführt, um so genannte 'Illegale' zu aufzuspüren und in Schubhaft zu sperren, wo die Straße, die wir umbenennen wollen, immer noch den Namen eines Antisemiten und des einstigen Mitverantwortlichen für die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Viertel trägt. Die Geschichte hat in ihren Strukturen zur Vertreibung von Menschen eine Kontinuität, die sich heute im Fremdenrecht niederschlägt: Menschen werden ausgewiesen, abgeschoben, kriminalisiert, illegalisiert, verprügelt, gefoltert, getötet. Deshalb richtet sich unsere Forderung nach der Umbenennung in Selma-Steinmetz-Straße auf einer allgemeinen Ebene gegen das Unrecht schlechthin in diesem Land, in dem die BürgerInnenrechte de facto eigentlich StaatsbürgerInnenrechte sind. In der Hinsicht ist diese Forderung auch als ein kleiner, aber in die Zukunft wirkender Schritt in Richtung Gerechtigkeit und Gleichheit zu sehen, in eine Gesellschaft, die viele Steinmetze und Steinmetzinnen braucht, um endlich einmal für alle da zu sein."

Claudia hängte sich ein Bild von Selma Steinmetz, der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus und ersten, die in Österreich zur Verfolgung von Roma und Sinti publizierte, ins Fenster und bekam prompt Drohbriefe antisemitischer AnwohnerInnen.

Solidarität mit Sexarbeiterinnen

Als das Stuwerkomitee 2007 beschloss, zum 2. Juni, dem internationalen Hurentag, eine Solidaritätsaktion für die von ständigen Polizeiaktionen schikanierten SexarbeiterInnen auf den Straßen des Stuwerviertels zu machen, war es Claudia Dietl, die die schöne Idee Wirklichkeit werden ließ: Sie interviewte die Deutsche Hurengewerkschafterin Stefanie Klee, gestaltete eine Radiosendung auf Radio Orange und es blieb nicht mehr zu tun, als die Radioapparate in die Fenster zu stellen und Claudias Sendung auf den Straßen hörbar werden zu lassen. (Nachzuhören im Online-Archiv von Orange 94.0  bzw. nachzulesen im Augustin)

Als Architektin widerständiger sozialer Räume bemühte Claudia sich immer wieder, Zusammenhänge herzustellen, in denen Frauen und vor allem auch Lesben verschiedener Generationen zusammenkamen und sich austauschten. 2007 war sie eine derjenigen, die die Frauenfrühlingsuniversität organisierten und die dabei gewonnenen Erfahrungen dann in einer Broschüre publizierten.

Keine Bildung "von oben herab"

Es ging Claudia Dietl darum, ein herrschaftsfreies miteinander und voneinander Lernen zu ermöglichen, "weil es sinnvoll ist, gemeinsam 'Wissen' zu erarbeiten, weil es nie funktioniert, wenn man von oben herab 'Bildung' in die einzelnen hineinpresst und hofft, unten käme dann irgendetwas heraus, es funktioniert nach-haltig nur, wenn man selbst beteiligt ist, wenn wir alle selbst Beteiligte sind bei 'Theorieproduktion'. Um kritisches Lernen möglich zu machen, müssen wir zuerst vorgefertigte Denkmuster aufspüren und verlernen. Dies zu wollen ist eine Grundvoraussetzung - mit Herz und Verstand."

Zeitzeuginnen zuhören

Immer wieder kam Claudia Dietl zurück auf die Frage, wie der Nationalsozialismus möglich geworden war, ohne sich je mit einfachen, monokausalen Begründungen zufrieden zu geben. Geschichtsbewusstsein hieß für sie: Frauengeschichte erforschen und vorallem den Zeitzeuginnen zuhören. So war sie befreundet mit den Widerstandskämpferinnen Irma Schwager und Ceija Stojka, für deren Lebenserfahrungen Claudia als Multiplikatorin diente. Im Dezember 2010 organisierte sie die wunderbare Hommage zum 90. Geburtstag der Widerstandskämpferin Dagmar Ostermann, die kurz darauf starb.

Als Anhängerin Antonio Gramscis und Frigga Haugs fragte Claudia Dietl nach den Methoden und Strategien mithilfe derer die Herrschenden das Einverständnis der Beherrschten mit der Herrschaft herstellen, und wie dieses Einverständnis ins Wanken gebracht werden könnte. Wieso lassen sich die Menschen entgegen jeglicher Logik so gerne einreden, an ihrem Unbehagen seien die noch Ärmeren, Unterprivilegierteren, noch unbehaglicher Lebenden schuld? Durch welche psychologischen Mechanismen werden Benachteiligte zu RassistInnen und AntiziganistInnen statt zu WiderstandskämpferInnen gegen diejenigen Verhältnisse, die an ihrer Benachteiligung schuld sind? Und welche politischen und gesellschaftlichen Mechanismen setzen diese psychologischen Mechanismen wie ein?
Claudia Dietls letzter Arbeitsschwerpunkt war die Situation von Roma und Sinti. Im Juni war sie in Ungarn unterwegs um für ein Buch über die Situation dieser Minderheit zu recherchieren. Die totalitären Maßnahmen der ungarischen Rechtsregierung und die katastrophalen Lebensverhältnisse vieler Roma bedrückten Claudia zutiefst.

Am 19. Juli 2011 setzte Claudia Dietl ihrem Leben ein Ende.

Sie hatte stets appelliert, mutig aufzutreten und Widerstand gegen Unrecht zu leisten und zwar durch konkretes Handeln. Sie wird ihren MitstreiterInnen sehr fehlen. (Tina Leisch und Uschi Lichtenegger, dieStandard.at, 6.8.2011)