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Die Nahrungslücke wird sich bis 2030 verfünffachen, erwartet die UN-Organisation FAO. Damit es nicht zu noch mehr Hungersnöten kommt, muss die Nahrungsmittelproduktion zunehmen.

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Standard: Angesichts der Hungerkatastrophe in Afrika: Wo liegt die Schuld reicher Blöcke wie der EU?

Von Witzke: Bei der Agrarpolitik der EU früher wurden Exporte stark subventioniert, das hat zu geringeren Lebensmittelpreisen bei den importierenden Entwicklungsländern geführt. Die niedrigen Preise waren kurzfristig zwar positiv, aber langfristig hat es Anreize zu Investitionen erodiert. Die Landwirtschaft hat sich nicht entsprechend entwickelt.

Standard: Mittlerweile gibt es doch fast keine Exportsubventionen mehr in der EU.

Von Witzke: Richtig. Die EU-Agrarpolitik ist deutlich liberaler geworden. Die negativen Effekte auf die Entwicklungsländer sind geringer geworden. Aber die Auswirkungen der EU-Exportpolitik sehen wir noch immer. Vor allem, weil die Agrarforschung überall zurückgegangen ist. Das Produktivitätswachstum in der Landwirtschaft von vier Prozent im Jahr in den 60er- bis 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist auf nur mehr ein Prozent Wachstum weltweit geschrumpft. In der EU ist der Produktivitätszuwachs überhaupt nur mehr bei 0,6 Prozent; und so wurde die EU zum größten Agrarimporteur der Welt.

Standard: Dazu hieß es aber immer, dass dies positiv ist. Weil es sozusagen der Beitrag der EU zu Entwicklung ist, wenn die armen Länder mit ihren Agrarprodukten in den großen EU-Markt exportieren können.

Von Witzke: Diese Annahme hat sich als falsch erwiesen. Die Arbeitsteilung, bei der die armen Länder Nahrungsgüter exportieren und die reichen Länder diese importieren, basierte auf der Annahme, dass Nahrungsproduktion viel ungelernte und damit preiswerte Arbeit erfordert. Aber das Gegenteil ist eingetreten! Die armen Länder, die noch in den 60er-Jahren Nettoexporteure von Nahrungsgütern in die reichen Länder waren, sind heute Nettoimporteure. Die UN-Nahrungsmittelorganisation FAO erwartet, dass sich die Nahrungslücke bis 2030 verfünffachen wird. Wenn nicht entschieden gegengesteuert wird, besteht die Gefahr, dass schon zu Ende dieses Jahrzehnts die Welternährungslage derart angespannt ist, dass wir nicht nur ein enormes humanitäres Problem auf der Welt haben werden sondern auch Hungerrevolten und Massenemigration.

Standard: Muss die EU also mehr selber produzieren?

Von Witzke: Natürlich! Die EU nutzt über ihre Agrarimporte etwa 35 Millionen Hektar an Ackerfläche außerhalb ihres Territoriums, das entspricht etwa der Fläche von Deutschland. Nur mit Produktivitätssteigerungen sollte die EU ihre Bedürfnisse an Nahrung, Futtermitteln, Naturfasern und Bioenergie befriedigen. In Anlehnung an die Politik Chinas, sich in Afrika große Ackerflächen zu sichern, nenne ich die derzeitige EU-Importpolitik "virtuelles Landgrabbing" - und nicht Entwicklungshilfe.

Standard: Man kann aber auch weltweit die agrarische Produktionsfläche ausweiten.

Von Witzke: Das geht nicht, denn es gibt weltweit keine nennenswerten Flächenressourcen mehr. Und eine Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Entwaldung ist bekanntlich keine Lösung, weil dies zum Klimawandel beiträgt. Eine steigende Produktivität der Kleinbauern jedoch erhöht deren Einkommen und die Löhne der anderen Arbeitskräfte in ländlichen Regionen.

Standard: Wie sehen Sie die Rolle von vielgescholtenen Entwicklungen wie mehr Agrarsprit und mehr Spekulation mit Grundnahrungsmitteln?

Von Witzke: Da wird vieles überschätzt. Etwa der Einfluss der Bioenergieproduktion. In den letzten zehn Jahren sind die Flächen dafür um nur etwa zwei Prozent der weltweiten Ackerfläche angestiegen, das ist noch nicht so bedeutend. Natürlich gibt es da eine Bodenkonkurrenz zwischen Lebensmitteln und Nicht-Lebensmitteln, aber die gibt es ausgeprägter bei Baumwolle - und da regt sich niemand auf. Stark unterschätzt wird hingegen der Einfluss des Preises für Erdöl. Die Landwirtschaft ist stark von Energie abhängig, erstens, weil sie selbst viel benötigt, andererseits ist die Herstellung von Düngemitteln und Saatgut energieintensiv. Und die Rolle der Spekulanten wird überbewertet. Schließlich bestehen zwischen den Spotmärkten, wo die Güter physisch gehandelt werden, und den Terminmärkten kaum Zusammenhänge. (Johanna Ruzicka, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.8.2011)