Wien/Salzburg - Ein möglicher Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO), mit derzeit 154 Mitgliedsstaaten, könnte noch in diesem Jahr über dien Bühne gehen: "Die Wahrscheinlichkeit liegt bei mehr als 50 Prozent", sagte WTO-Direktor Pascal Lamy am Wochenende. Seit 18 Jahren wird mit Russland über eine Mitgliedschaft verhandelt. Keine Fortschritte gibt es hingegen bei der seit zehn Jahren andauernden Doha-Freihandelsrunde: Die Chancen für einen Abschluss in diesem Jahr seien "bei Null".

Ein Beitritt Russlands noch in diesem Jahr hält der WTO-Chef für "machbar und wahrscheinlich" im Vergleich zu den vergangen Jahren. Einige Handelshemmnisse müssten aber noch aus dem Weg geräumt werden, etwa Investitionshürden im Automobilsektor oder der Grenzkonflikt mit Georgien. Lamy nahm am Freitag und Samstag am "Salzburger Trilog 2011" unter dem Motto "Neue Ansätze für eine nachhaltige Weltwirtschaft - Brauchen wir eine 'Innenpolitik' für die globalisierte Welt?" teil.

Die Ausarbeitung eines neuen Abkommens zur Welthandelsliberalisierung stockt schon seit Jahren, seit dem Jahr wird 2001 verhandelt. Über 80 Prozent der Verhandlungspunkte habe man sich schon geeinigt, die restlichen 20 Prozent hätten sich in den vergangenen Monaten aber als "schwieriger als erwartet" herausgestellt, so Lamy: "Ich glaube noch immer, dass die Mitglieder wollen und es am Ende des Tages auch tun werden." Der US-Präsidentschaftswahlkampf und ein Wechsel in der politischen Führung in China würden eine Einigung in naher Zukunft aber nicht leichter machen.

Plan B

Man habe es auch mit einer minimalen Übereinkunft, einem "Plan B" oder einer sogenannten "early harvest" für die Doha-Runde versucht, bisher jedoch ohne Erfolg."Wir müssen weiter daran arbeiten die USA zu überzeugen", so der WTO-Chef. Im Mai dieses Jahres hatte er vorgeschlagen, die Verhandlungen auf einzelne Dossiers wie etwa den Baumwollhandel, Fischereisubventionen oder die allgemeinen Handelserleichterungen zu beschränken. Vor knapp einem Monat forderte Lamy die Mitgliedsstaaten auf über Lösungsansätze für die Doha-Runde nachzudenken. Derzeit wird an der Tagesordnung für die WTO-Ministerkonferenz im Dezember gearbeitet.

Das Grundproblem der vergangenen Freihandelsverhandlungen sieht Lamy in einem "Zweiklassensystem" mit Industrie- und Entwicklungsländern. "Es gibt aber jetzt de facto eine Abmachung, dass dieses System um die Kategorie der Schwellenländer erweitert wird." China, Indien und Brasilien hätten akzeptiert, dass sie in der WTO-Ordnung nicht mehr länger wie Senegal, Kambodscha oder Jamaika behandelt werden. Dies sei "ein großer Umschwung". Man müsse nun diskutieren, ob China, Indien und Brasilien als ein arme entwickelte Länder oder ein reiche Entwicklungsländer eingestuft werden. Dies habe "deutliche geopolitische Konsequenzen", gab der WTO-Chef zu Bedenken.

Schwellenländer

Die USA vertrete den Standpunkt, dass Schwellenländer, wie Indien, mit ihnen im Wettbewerb stehen und die gleichen multilateralen Handelsverpflichtungen hätten. China, Indien und Brasilien meinen, dass sie nicht mehr mit Kenia oder Sambia vergleichbar seien, aber auch nicht mit den USA, EU oder Japan, beschreibt Lamy die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen.

Aufgrund des Stillstands bei der Doha-Runde haben viele Länder untereinander sogenannte bilaterale Handelsabkommen geschlossen: Ob die Abkommen gut oder schlecht seien, wollte der WTO-Chef nicht explizit beantworten: "Die Realität ist etwas komplexer." Im Bereich der Zollsenkungen gebe es keine Probleme mit bilateralen Abkommen. Aber wenn die Handelsabkommen spezielle regulatorische Aspekte enthalten, könne dies zu einem Hindernis für den multilateralen Handel werden. "Man habe damit möglicherweise eine 'Spaghetti-Bowl' voll mit regulatorischen Praktiken, die den Handel dann verstreuen, anstatt zu globalisieren und damit zu einem Problem für den internationalen Handel werden", warnte Lamy.

Der weltweite Handel wird heuer laut WTO voraussichtlich um rund 6,5 Prozent wachsen. Nach einem starken Rückgang im Jahr 2009 aufgrund der Wirtschaftskrise und einer deutlichen Gegenbewegung 2010 kehre man "wieder zur Normalität zurück", erwartet der WTO-Chef. (APA)