Grafenegg - Glenn Gould, der notorische Querdenker, wollte das Werk anders betrachtet wissen, quasi aus Schönbergs Sicht: als "raffinierte Verwebung eines grundlegenden motivischen Strangs". Drama? Kontraste? Kantigkeiten? Nein, danke. "Fashionable" nannte das exzentrische Genie diesen konventionellen Weg der Interpretation; als "gemächlich" und "halsstarrig" bezeichnete Leonard Bernstein Goulds Sicht des Werks, welches die beiden vor einem halben Jahrhundert mit den New Yorker Philharmonikern zur Aufführung brachten.

Rudolf Buchbinders Deutung von Johannes Brahms' erstem Klavierkonzert besaß einen Hauch von Glenn Gould - jedenfalls durchschritt der künstlerische Leiter von Grafenegg das Großwerk gelassener als vor einem Jahr im Musikverein (Tonhalle-Orchester Zürich, David Zinman). Ob die Anwesenheit der Raiffeisen-Allmächtigen eine derart beruhigende Wirkung auf den virtuosen Netzwerker hatte?

Denn die bemerkenswerten Momente des Buchbinder'schen Umgangs mit Brahms' erst nach langjährigen Wehen geborenem "Problemkind" ereigneten sich im Leisen, Zurückgenommenen - sei es der entspannt pendelnde d-Moll-Eintritt des Klaviers, sei es die mit bewegender Verzagtheit erfüllte cis-Moll-Unisono-Passage in der Durchführung des Stirnsatzes oder das mit größter Schlichtheit erzählte Thema des Mittelsatzes.

Wenn Rosamunde Pilcher statt Tolstoj Krieg und Frieden geschrieben hätte und dieses Werk als ZDF-Mehrteiler verfilmt worden wäre, Tschaikowskis vierte Symphonie wäre die ideale Filmmusik dafür. Zubin Mehta - seit 50 Jahren dirigiert der in Wien ausgebildete Inder schon Orchester von Weltrang - und das Israel Philharmonic Orchestra boten eine nicht unsympathische Mittelklasse-Interpretation des Werks; militärisch durchexerzierte Höhepunkte planierten die Erinnerung an Höhepunkte in lyrischen Werkteilen jedoch beinahe.

Mit zwei Tschaikowski-Zugaben (Andante cantabile, Schwanensee) bedankte sich Mehta beim begeisterten Publikum, welches Grafenegg an diesem spätsommerlichen Abend fast trunken von derartig viel Romantik verließ. (Stefan Ender, DER STANDARD - Printausgabe, 1. September 2011)