Ein Denkmal am Ottakringer Friedhof erinnert an die Revolten von 1911. Die Wiener FremdenführerInnen berichten in einer Spezial-Führung davon

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Wien - Es sind Gewaltexzesse von frappierender Aktualität, die sich vor exakt 100 Jahren in Wien zugetragen haben. Am 17. September 1911 entluden sich in der Peripherie der k.u.k.-Hauptstadt die seit Jahren aufgestauten sozialen Spannungen in bis dahin beispiellosen Krawallen. Auslöser für die als "Teuerungsunruhen" oder "Hungerrevolte" bekannten Ausschreitungen waren das erdrückende Wohnungselend in den Außenbezirken, die ständig steigenden Lebensmittelpreise und die Wut des "Proletariats" über die Regierung, die den Entwicklungen am Weltmarkt sowie dem Mietwucher völlig hilflos ausgeliefert war.

Unterentwickelte Industrie, rückständige Landwirtschaft und daraus resultierende Versorgungsengpässe ließen die kränkelnde Monarchie aus dem letzten Loch pfeifen. In Wien blühte indes die Grund- und Bauspekulation, was besonders außerhalb des Linienwalls (heute: Gürtel) zu katastrophalen sozialen Verhältnissen führte. Hernals, Ottakring, Fünfhaus, Rudolfsheim und Simmering wiesen um 1910 nur noch minimale, Meidling und Favoriten de facto keinerlei Wohnungsreserven auf. So wird in dem Buch "Die Anarchie der Vorstadt" (Maderthaner/Musner) ein Wien skizziert, das an seinen Rändern nichts von jener Romantik und Gemütlichkeit zu bieten hatte, wie diesen Gegenden gerne angedichtet wird.

Krankheiten und Kriminalität

Hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot (Stichwort: "Bettgeher"), Alkoholismus, schlechte Schulbildung, Verwahrlosung, Krankheiten und Kriminalität dominierten jene düsteren Brachen und Häuserschluchten, die vom Wiener Bürgertum aus Angst und Abscheu strikt gemieden wurden. Als Hochburg und Basis des Vorstadtgaunertums galt zu dieser Zeit die Schmelz. Diese unverbaute Steppe mit ihrer gewaltigen Ausdehnung wurde von Polizisten ausschließlich in Patrouillenstärke und bei Tag betreten - wenn überhaupt. Sie war die Heimat von Banden und Obdachlosen und sie war die Nachbarin des im Schachbrettraster mit Zinskasernen zugepflasterten Ottakrings.

Steine flogen

Am 17. September trugen sich in diesem Teil der Stadt Szenen zu, die man eins zu eins ins London oder ins Paris des 21. Jahrhunderts transformieren könnte. Rund 100.000 Menschen hatten sich unter der Führung des stimmgewaltigen Reichstagsabgeordneten Franz Schuhmeier vor Rathaus und Parlament versammelt. Bald flogen die ersten Steine, zahllose Fenster der Regierungsgebäude gingen zu Bruch, die Polizei schritt mit aufgepflanzten Bajonetten ein. Die Masse wurde Richtung Burggasse und Lerchenfelderstraße zurückgedrängt, worauf die Situation endgültig außer Kontrolle geriet.

Amtsgebäude und Wachzimmer wurden gestürmt, Geschäfte geplündert, Auslagenscheiben eingeschlagen, Brände gelegt und Straßenbahnwaggons attackiert, sogar die Schokoladefabrik Manner auf der Schmelz war Ziel der Angriffe. Zu den Demonstranten gesellten sich "Lumpenproletarier" und die "Ottakringer Elendsjugend", die in kleineren, beweglichen Trupps massive Zerstörungen anrichteten. Ottakring glich zu diesem Zeitpunkt längst einem Kriegsschauplatz: "Gegen drei Uhr nachmittags war der südwestliche Bezirksteil (...) militärisch besetzt. Die Koppstraße wurde bei der Kreitner- und Klausgasse von Bosniaken abgeriegelt, die ihrerseits von den Demonstranten, die sich in der Herbststraße (...) angesammelt hatten, mit einem Steinhagel eingedeckt wurden", so ein zeitgenössischer Lagebericht.

Erste Schüsse

Kurz darauf fielen die ersten Schüsse. Die Kugeln schlugen zwar über den Köpfen der wütenden Menge ein, doch Querschläger verletzten drei Personen derart, dass sie ihren Verletzungen erlagen. Der 20-jährige Franz Joachimsthaler erlitt einen Bauchschuss und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Polizeirat Emil Frömmel wurde von einem aus dem Fenster geschleuderten Bügeleisen am Kopf getroffen und schwer verwundet.

Erst in den Abend- und Nachtstunden des 17. September 1911 ebbten die Proteste und Tumulte ab, der Aufstand der Armen war teils niedergeschlagen worden, teils hatte er sich schlichtweg aufgelöst. Bürgerliche Medien sowie Regierung zeigten sich ob dieser "sinnlosen Gewalt" fassungslos, irgendwie konnten - oder wollten - sie die Hintergründe dieses Gewaltausbruchs nicht beleuchten. Auch in diesem Punkt ähnelt Wien 1911 dem Paris und London des Jahres 2011. (APA)