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"Das jüdische Wilna wurde ausgerottet": eine Ansicht aus der litauischen Hauptstadt, mit einem Plan des ehemaligen Ghettos an der Hauswand links.

Foto: AFP/PETRAS MALUKAS

Was mir eigentlich einfällt? Was einem eigentlich zu schreiben einfällt. In einer Welt, die vor allem nach Profit fragt, gilt moderne Kunst nicht wenigen als Anmaßung. Keine Marktanalyse kann den Bedarf nach neuen Gedichten belegen, und mit keiner Formel lässt sich berechnen, ob der nächste Roman auf breite Nachfrage stoßen wird. Selbst wenn die Auflage vorausgesagt werden könnte, wüssten wir noch lange nicht, ob ein Text gut ist oder schlecht. Der Wert richtet sich nicht nach der Verwertbarkeit. Schriftsteller ist nicht unbedingt, wer vom Schreiben leben kann, sondern vielmehr, wer vom Leben schreiben muss. Umso schöner, wenn ihm für diese innere Notwendigkeit, für diese eigentümliche Zwangsneurose dann auch noch ein Preis zuerkannt wird. Fein, wenn mit Kunst zuweilen ein Gewinn zu verbuchen ist. Schließlich wird auch mancher Gewinn mit Kunst garniert, und das lässt sich zumeist sogar steuerlich abschreiben.

Was mir da wieder einfällt? Das Schreiben ist Eigensinn, Vorstellung, Erinnerung. Die Poesie verleiht dem Unerhörten eine Stimme. Der Einfall dringt in die Welt und kündet von einer anderen Möglichkeit. Er ist eine Invasion. Er kommt aus einer fernen Galaxie, die in mir liegt. Er trifft mich mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit. Der Einfall verleiht dem Anderen das Wort. Das, was mir zu schreiben einfällt, ist Impertinenz, ist Fantasie, entstammt dem Verschwiegenen, dem Verdrängten und dem Erinnerten.

Als mich die Nachricht erreichte, mir sei der Anton-Wildgans-Preis zuerkannt worden, war ich auf einer Reise in die Vergangenheit. Ich war an jenem Tag mit meinen Eltern und meinem Bruder nach Litauen geflogen. Wir schrumpften zur Kernfamilie meiner Kindheit zusammen. Gemeinsam fuhren wir nach Vilnius, in das einst polnisch-jüdische Wilna.

Meine Mutter, Schoschana Rabinovici, entstammt diesem Jerusalem des Nordens, wie die Stadt früher genannt wurde. Hier hatte sie als Mädchen gelebt, hier war sie ins Ghetto gepfercht, hier waren ihre, waren meine Verwandten ermordet worden. Sie verfasste ein Buch über ihr Überleben, über Wilna, über die Lager und über den Todesmarsch. Dank meiner Mutter, so lautet der Titel, und der Text beginnt mit dem lakonischen Satz: "Am 22. Juni 1941 sah ich meinen Vater zum letzten Mal."

Die einstige Wohnung meines Urgroßvaters liegt direkt neben dem Hotel, in dem wir untergebracht waren. Mutter hatte die Zimmer seit siebzig Jahren nicht betreten, aber noch ehe eine Tür geöffnet wurde, sagte sie uns, welche und wie viele Räume sich dahinter verbergen würden. Hier sei das Bad gewesen. Von dem Fenster aus hatte sie, die Halbwüchsige, gesehen, wie die Mörder ihre Opfer durch die Straßen jagten. "Hinter der Tür sind drei kleine Zimmer." - "Dahinter ist das Stiegenhaus." Sie wusste noch alles.

Wir suchten auch die Adresse auf, an der sich die Boutique meiner Großmutter befunden hatte. Die Vorderfront mit weiten Glasscheiben war modern. Der neue Modesalon an derselben Anschrift schien Mutter viel größer als der einstige Laden. Mutter wurde unsicher. Ob sie je von dem Geschäft "Bon Ton" gehört hatten, fragte sie die jungen Verkäuferinnen. Wann das denn existiert haben sollte?

In den Dreißigern des letzten Jahrhunderts, sagte meine Mutter den verdutzten Frauen in ihren Zwanzigern. Ob es einen Hinterhof gäbe? Eine Angestellte ging voran, und als wir den Ausgang erreichten, sagte Mutter: "Das ist es. Das ist die alte Holztür." Und dann: "Das ist der Garten. Hier spielte ich als Kind." Sie hatten hinter dem Betrieb gewohnt. Von dort aus erkannte Mutter das ganze Haus. Der einstige Laden und die Wohnung waren zusammengelegt worden zum Kleidergeschäft der Gegenwart. Modern ist nur die Fassade, aber weiter hinten lebt die Vergangenheit fort.

Sie führt uns durch die Gassen des ehemaligen Ghettos. Welch lauschige Plätze voller Restaurants und Lokale! Was für eine schöne Kulisse für Touristen. Hier sah Mutter, wie Franz Murer die schöne Perlova direkt vor ihr aus der Reihe holte. Kurz danach hörte sie den Schuss. Franz Murer, der Schlächter von Wilna, der Judenreferent aus dem steirischen Murau. Sein Prozess im Graz der Sechzigerjahre verkam zum Tribunal gegen die Opfer. Der Freispruch geriet zu einem einzigen Volksfest. Mutter zeigt uns den Ort der Selektion. Kinder, Alte, Kranke, die Mehrheit der Frauen wurden nach Majdanek verschleppt und sogleich vernichtet. Sie zählt die Namen unserer Ermordeten auf. Von der ganzen Familie überlebten bloß drei, Mutter, meine Großmutter und ein Großonkel.

Am Tage der deutschen Besetzung war meine Mutter von ihrem Vater aufgesucht worden. Sie, seine Neunjährige, war zum Haustor hinuntergelaufen. Als er fortging, wandte er sich noch einmal um und winkte. Der litauische Hausmeister rief: "Jude, bück dich vor dem deutschen Offizier." - Darauf der Soldat: "Aber nein, Juden müssen sich nicht vor mir bücken, die nehmen wir einfach mit!" An jenem Tag, dem 22. Juni 1941, sah meine Mutter Isaak Weksler, ihren Vater, meinen Großvater zum letzten Mal.

Im Wald von Ponar, etwa sieben Kilometer von Wilna entfernt, schossen Einheiten der Wehrmacht, der SS, der Einsatzkommandos und der litauischen Milizen etwa hunderttausend Männer, Frauen und Kinder in die Gruben hinein. Die Reiseführerin meinte, wir könnten im winzigen Museumsraum neben den Erdkratern nichts erfahren, was wir nicht ohnehin wüssten, aber wir bestanden darauf hineinzu-gehen. Drinnen sagte unsere Begleiterin, oben auf der Decke sei die Deportationsliste des ersten Transports wiedergegeben. Wie denn Mutters Papa geheißen habe? Und tatsächlich. Da stand der Name: Isaukas Weksler. Nach Jahrzehnten der erste und der letzte Beleg seiner Ermordung. Mutter - die immer so beherrscht bleibt - erbleichte und musste sich setzen.

Das jüdische Wilna wurde ausgerottet, doch seine Matrikeln blieben über. Die Heiratsbücher liegen in Hebräisch und in Polnisch vor. Eine Mitarbeiterin des städtischen Archivs nahm sich unserer an und forschte unsere Vorfahren aus. Ich war in einer Rumpffamilie aus der Shoah aufgewachsen, wir waren der letzte Rest vom Schützenfest, doch nun wuchs mir ein Stammbaum zu; eine Verwandtschaft, die bis in die napoleonische Zeit zurückreicht.

Eben da, in diesem Archiv, erreichte mich der Anruf aus Österreich, mit dem mir mitgeteilt wurde, mir sei der Wildgans-Preis zuerkannt worden, und diese Gleichzeitigkeit steigert noch die Bedeutung der Anerkennung, die ich hier erfahre, und passt zur Begründung der Jury, die meine Auseinandersetzung mit Identität und Geschichte erwähnt, denn eines ist offenkundig: Wäre es nach dem Willen der Mörder gegangen, dürfte es keinen Juden geben, der in Wien ausgezeichnet wird, weil er sich der deutschen Sprache verschrieben hat.

In einem Gebäudekomplex von Wilna überlebten etwa tausend jüdische Zwangsarbeiter die Liquidierung des Ghettos. Unter ihnen Schneier Weksler, der Onkel meiner Mutter. Die allermeisten dieser Juden, auch Schneier, wurden nur wenige Tage vor der Befreiung noch umgebracht.

In diesem Block, im einstigen Lager, wohnen heute wieder Menschen, und angesichts der Wäsche, die bunt zum Trocknen aushing, vertraute uns die Reiseführerin an, sie und die Ihren hätten vor einiger Zeit ihr Heim renoviert, um es hernach verkaufen zu können. Die Arbeiten seien beinah fertig gewesen, als eine amerikanische Jüdin auftauchte, die hier einst zu Hause gewesen war. Sie hätten gefürchtet, ihr alles abtreten zu müssen, doch die Überlebende habe sie beruhigt. Sie wollte die Räume bloß besichtigen. Später hatten sie im Keller vier scharfe Granaten aus dem Krieg gefunden. Jahrzehnte hatten sie darüber gewohnt. Mein Bruder sagte hierauf: "Wir leben alle auf den Granaten der Vergangenheit."

Literatur weiß um diese Sprengsätze der Geschichte, aber sie kann auch die Zündler der Gegenwart benennen. An den Worten erkennt sie die Brandstifter. Poesie entschärft keine Bombe, aber sie lotet die Scharfmacher aus, ob sie aus Wilna kommen oder aus Wien. Sie kennt unsere innersten Minenfelder. Sie weiß von den Verbrechen der Vergangenheit, vergisst aber nicht jene, die heute zu Opfern von Krieg und Folter werden, die hier Zuflucht suchen und auf Argwohn stoßen. Sie fragt, was war, um auszusagen, wie es gewesen sein wird. Sie macht uns verstehen, warum, was einmal geschah, immer wieder geschehen kann. Sie erlaubt mir den Blick auf das Andere, auf das Abseitige. Sie bringt zur Sprache, wie es sie uns verschlägt. Sie will täglich wissen, was mir denn wieder einfällt, und sie gibt sich erst zufrieden, wenn ich dem Unerhörten folge, dem Ungehörigen nachgehe. Für diese Bodenlosigkeit im mehrfachen Sinne auch noch ausgezeichnet zu werden empfinde ich als Bestätigung und als Glück. (Doron Rabinovici, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 17./18. September 2011)