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Christian Boltanski vor seiner Installation bei der Kunst-Biennale in Venedig.

Foto: EPA/ANDREA MEROLA

Einer der großen Unterschiede zwischen Kunst und Kino liegt darin, dass man zur Kunst meistens hinfahren muss, während das Kino uns im Lauf seiner Entwicklung immer näher gekommen ist (bei vielen ist es längst im Wohnzimmer angekommen).

Kürzlich habe ich diesen Unterschied wieder sehr deutlich bemerkt, als ich bei der Kunst-Biennale in Venedig zum französischen Pavillon gekommen bin, in den Christian Boltanski eine sehr große Installation gebaut hat. Sie trägt den Titel Chance, und wird in dieser Form so nur dort zu sehen sein, denn sie geht perfekt auf die Architektur des Gebäudes ein, das mit seinem Zentralraum plus drei Flügelräumen recht kirchlich erscheint.

Im Hauptraum befindet sich eine riesige Rotationsdruckmaschine, die Bilder von Neugeborenen über die verschlungenen Wege dieses gigantischen Apparats an bestimmten Punkten vorbeiführt, an denen üblicherweise der Druckprozess stattfindet, während es hier umgekehrt ist: Die Bilder werden unterwegs nach einem computergesteuerten Zufallsprinzip kurz angehalten (ein einzelnes wird dann auf einem Monitor sichtbar). Das Prinzip des Kinos (einzelne, jeweils ganz kurz festgehaltene Laufbilder in langer Serie) bekommt hier räumliche Dimension und wird mit einem seiner Vorgängermedien verbunden.

Auf der zentralperspektivisch rückwärtigen Wand (wo in der Kirche der Altar bzw. das heiligste Bild wäre) zeigt auch Boltanski ein Bild, und zwar ein zusammengesetztes, das ebenfalls in ständiger Bewegung ist: Ein Gesicht aus neun Teilen, das sich ständig neu arrangiert. Das Ausgangsmaterial bilden die Aufnahmen von 60 neu geborenen Polen und 52 verstorbenen Schweizern. In den beiden Flügelräumen läuft auf großen Displays mit Ziffern jeweils ein Zählakt ab: Wieviele Menschen sterben pro Tag auf der Erde? Und wieviele werden geboren?

Die Arbeit Chance veranschaulicht den Zufall in verschiedenerlei Gestalt, als statistische Größe und als Resultat einer Kombinatorik aus Aspekten, von denen die Fotografie immer nur das Ergebnis für einen Moment "verewiglichen" kann. Das ist dann das Gesicht, das ein Individuum in einem bestimmten Moment hat bzw. zeigt. Das Kino hingegen trägt in seiner technischen Gestalt den Vorbehalt immer schon in sich, auf dem die Existenz gründet: "Will it be the last time?", wird man von den "Talking Chairs" gefragt, die Boltanski rund um den französischen Pavillon aufgestellt hat. Wird nach dem einen angehaltenen Bild noch ein weiteres kommen? In der Regel ist das der Fall, doch die Ausnahme definiert das einzelne Leben, von dem Pasolini ja bekanntlich gesagt hat, dass es vom Ende her einer Montage gleicht wie bei einem Film.

Ich könnte mir vorstellen, dass manche Boltanskis Arbeit (hier gibt es eine gute Hinführung) für zu monumental und zugleich zu trivial halten. Ich fand sie aber, gerade auch als Fortsetzung früherer Arbeiten, sehr beeindruckend und überzeugend, und würde allen, die noch Gelegenheit haben, die Biennale in diesem Jahr zu sehen (sie läuft immerhin noch bis 27. November), sehr empfehlen, in den Giardini bis in den hinteren Bereich zu gehen, wo der Pavillon Frankreichs liegt.

Wer aber nicht mehr persönlich vorbeischauen kann, hat im Netz die Möglichkeit, zumindest das zentrale Prinzip von Chance zu sehen: Man kann nämlich selber "Schicksal" spielen und dabei sogar etwas gewinnen.