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Er hatte alte, wache Augen. Schön.

Foto: APA/Techt

Die Mutter einer Freundin kam zu einem gemeinsamen Theaterbesuch überraschend in Begleitung. Es war ein älterer Herr, so Mitte, Ende 80. Sehr rüstig aber. Danach wurde ein Kaffeehausbesuch beschlossen. Die Hauptdarstellerin des Abends war auch dabei, die Schwester meiner Freundin. Wir gratulierten zur ihrer Darstellung. Wir laberten über die Inszenierung, die schlechte Auslastung des Stückes. Der ältere Herr bestellte Würstel mit Saft. Dazwischen stand ständig jemand auf und ging in die Kellerbar rauchen. Kam zurück in einer Schnelle-Tschick-Wolke.

Der ältere Herr erkundigte sich, woher wir uns kannten und was wir so taten. Er sprach österreichisches deutsch, mit einer merkwürdigen Färbung. Ach, alte Freunde, teilweise Arbeitskollegen. Selbständige Graphiker, Marketing, Webdesigner. Ich sagte nichts, wurde als Freundin vorgestellt. Ich überlegte derweil, ob ich auch rauchen gehen sollte. Die Mutter der Freundin fragte ihn, wie lange er denn in Wien bleibe. Er antwortete etwas, ich hörte nicht zu. "Das ist übrigens der Djerassi," raunte mir meine Freundin ins Ohr. "Jurassic" kalauerte ich zurück. "Der Erfinder der Pille." fügte sie hinzu. Okay.

Ich googelte unterm Tisch im I-Phone. Carl Djerassi, 1923 in Wien geboren, nach USA emigriert. Erfinder der Anti-Baby-Pille. 1200 wissenschaftliche Veröffentlichungen. Lehrt an der Standford University. Bedeutender Kunstsammler, vor allem Paul Klee. Seit den 80er-Jahren Literat, Erfinder der "Science-in-Fiction" Romangattung. Theaterautor. Buchautor, Opernkomponist. Ehrendoktorate in Kulturwissenschaften, Chemie und Geowissenschaften. Zahllose Preise und Auszeichnungen. Professuren. Und. Und. Und.

Kommt auch nicht so gut

Ich schielte hinüber. Er hatte alte, wache Augen. Schön. Um meine Ehrfurcht in den Griff zu bekommen atmete ich kurz tief durch. Einmal mit so jemanden sprechen können, was für eine Chance! Die anderen unterhielten sich über die Schönheit der Ramsau und die Kinder. Ich saß ungünstig. Ich überlegte, was ich sagen könnte. "Die Pille habe ich nie vertragen." fiel mir ein. Schlecht. Ich bekam nur Fragmente mit, was er mit der Mutter der Freundin sprach. Er plane gerade die Veröffentlichung eines kontroversen Buches über Chemie und Theater. Ich hatte sofort die Bilder von dem Theater in Russland im Kopf, wo man sowohl die Geiseln als auch die Terroristen durchs Belüftungssystem vergast hat. Das wird er wohl nicht meinen. Kommt auch nicht so gut.

Ich wurde leicht wütend, weil mein Lebensgefährte jetzt sicher genau wüsste, was er reden sollte, weil er sicher auch die Bücher von dem gelesen hat und selber Theatermensch ist und überhaupt so ein eloquenter Intelligenzler ist. Nein, ich schaffe das selber, ich sag‘ gleich was. Irgendwas. Der wird heimgehen und sich denken, ein netter Abend, vor allem die eine da (ich). Ich googelte noch einmal. Hätte ich lassen sollen. Beim zweiten Mal durchlesen fand ich das Leben dieses Mannes noch beeindruckender. Und erstarrte endgültig.

"Ich bin Sexkolumnistin", überlegte ich mir zu sagen. Nein, bloß nicht, der glaubt, ich nehme ihn auf den Arm. Ich gab auf. Hörte zu. Ließ mir erzählen von diesem alten Mann zu der späten Uhrzeit irgendwo in Wien. Über seine Theorien, seine Pläne. Wen er bald treffen werde, andere Genies. Er freue sich darauf. Er erzählte wohlwollend und anregend. Und immens interessiert, an allem. Sich seinem Alter zu ergeben war wohl nie eine Option für ihn. Wunderbar.

Habe keinen Pieps gesagt, bis zum Schluss. Mir alles nur gedacht. Aber ich habe ein Foto. Er neben mir. Er beugt sich gerade über die aktuelle "Zeit" - mit der Überschrift: "10 Menschen, die die Welt nachhaltig verändert haben" oder so ähnlich. Da waren Steve Jobs dabei, Mark Zuckerberg, irgendwelche Wissenschaftler. Und er. "Wie freundlich," schmunzelte er. "Die Zeitung könnte man sich einmal kaufen." Man verabschiedete sich. Er bedankte sich bei jedem einzelnen für den Abend. Auch bei mir. "Danke für den Abend." "Ja auch," verschiss ich es ein letztes Mal. Nein, der würde sich niemals an mich erinnern.

Zuhause dachte ich mir dann, die eigentliche Leistung dieses Mannes ist es, jemandem einen unglaublichen Abend zu bereiten, ohne dass er irgendwas zurückbekommen muss. Und ich war glücklich über mein Glück. Und bin jetzt ein bisschen verliebt. (derStandard.at, 17.10.2011)