William H. Gass schrieb 30 Jahre an "Der Tunnel".

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"Der Tunnel" umkreist die Faszination für das Böse.

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William H. Gass, "Der Tunnel", Rowohlt Verlag 2011

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Wien - Mit seinem Icherzähler William Frederick Kohler hat US-Autor William H. Gass einen der abstoßendsten, unsympathischsten Protagonisten der jüngeren Literaturgeschichte geschaffen, den man sich neben den in zeitgenössischen Buchregalen durch Blut und andere Körperflüssigkeiten watenden Serienkillern, Massenmördern, Psychopathen, Pädophilen, Tierquälern, Rassisten, Frauenhassern als entsprechend geeichter Leser gerade noch vorstellen will.

Dabei begeht dieser Kohler im nun erstmals auf Deutsch vorliegenden "Roman" Der Tunnel keine Verbrechen im eigentlichen Sinn. Als Historiker auf einer unwesentlichen Universität im US-amerikanischen Mittelwesten hat er sich bloß zu lange mit dem Bösen beschäftigt. Der Abgrund, in den er während seiner monumentalen Studie Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland blickte, starrt nur zurück. Das ist sowohl für den Romanprotagonisten als auch den Leser nicht angenehm. Das Böse muss reagieren, wenn man es provoziert.

Kohler sitzt also einsam und allein zu Hause im Keller als gern gewählte letzte Zuflucht für Männer, die vom Leben, der Ehe und dem eigenen Versagen enttäuscht sind. Während ihm droben in der Welt knapp vor der Rente die Ehefrau, die diversen Geliebten, die Karriere wegbrechen, muss er nur noch die Einleitung für diese eine Studie schreiben, die ihm, dessen ist sich Kohler sicher, ausschließlich Ablehnung und Hass einbringen wird. Verständnis für Nazis, gar die Unschuldsvermutung? Er weiß, dass er wissenschaftlich geschlachtet werden wird.

Kohler dreht darüber durch. So wird diese im Deutschen fast 1100 Seiten lange Einleitung in ein wissenschaftliches Werk zu einer Reise ins Schattenreich der eigenen Persönlichkeit. Kohler schreibt sich in Rage, haut Autobiografisches mit historischen Fakten zusammen, lässt Wissenschafterkollegen zu Wort kommen, hadert mit seinem Elternhaus und seiner unglücklichen Kindheit, erzählt von seinen Deutschlandreisen und den Nürnberger Prozessen, über die er zuvor publizierte. Und er kommt zur Überzeugung, aufgrund seiner eigenen Biografie eine "Partei der Enttäuschten" gründen zu müssen - womit er sich der Ursache seines eigentlichen Forschungsgegenstands, dem "Faschismus des Herzens" nähert.

Es zeichnet sich bei allen judenfeindlichen, rassistischen Bemerkungen auch zunehmend ab, dass es sich bei dieser nie spezifisch erklärten "Studie" Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland wohl eher nicht um eine sachliche Untersuchung, sondern ein irres ideologisches Machwerk, und bei seinem Autor um ein soziopathisches, selbstmitleidiges Arschloch handeln dürfte. Dessen aufgestaute Wut entlädt sich nun endlich ohne Kontrolle im Keller. Welch grimmiges Bild: Schließlich beginnt Kohler dort auch noch besessen einen Tunnel zu graben. Ausbruchsversuch - oder Schaufeln des eigenen Grabes? Der Tunnel wird einen noch weiter nach unten ziehen. Es gibt keinen Ausweg, keine Erlösung. Man erlebt ein endloses Mantra des Hasses, Selbsthasses, der Verachtung, des Weltekels. Die Lektüre greift einen auch körperlich an.

Schreiben als Selbsttherapie

Fast 30 Jahre hat William H. Gass an diesem in seinem Totalitarismus an William Gaddis oder Thomas Pynchon erinnernden Buch geschrieben, bis es 1995 heftig umstritten veröffentlicht wurde. Gut 15 Jahre dauerte es, bis sich ein deutscher Verlag an das von Nikolaus Stingl hervorragend übersetzte Monster wagte. Wie William H. Gass selbst sagt, funktionierte das Schreiben, Streichen, Überschreiben, Hinzufügen und verdichtende Radikalisieren, die Auseinandersetzung mit all der Hässlichkeit in der Welt auch als Selbsttherapie. Als reinigendes Feuer und Austreibung des großen "Anti", das im 1924 geborenen Gass aufgrund der hier geschilderten tatsächlichen Kindheitstraumata steckte.

Bei all dieser negativen Entladung darf man eines nicht außer Acht lassen: Dieser Roman ohne Handlung und ohne Helden ist kunstvoll und musikalisch aus diversen Textsorten wie Schweinehund-Monologen, obszönen Limericks, pornografischen Passagen, technokratisch verbrämter nationalsozialistischer Propaganda, Bibelzitaten, Comic-Sprechblasen, Schlagertexten und Lyrik montiert. Literaturprofessor Gass schrieb auch wissenschaftlich über Literatur und übersetzte Rainer Maria Rilke ins Amerikanische. Der Tunnel ist also auch ein Roman über die Sprache und die Liebe zu ihr. Es ist eine gefährliche Liebe, die in einen Tunnel führt, an dessen Ende kein Licht zu finden ist. Poptragöde Antony hat darüber ein Lied geschrieben: "As I search for a piece of kindness, I find Hitler in my heart." (Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe 19. Oktober 2011)