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Das Heim am Wilhelminenberg war kein Sonderfall, sagt eine ehemalige SPÖ-Politikerin. In vielen anderen Heimen waren die Zustände ähnlich.

Foto: Ronald Zak/AP/dapd

Wien - Die Heime der Stadt Wien seien "totalitäre Institutionen", in denen ein "derartiges Ausmaß von Zerstörung der Individuen und von Inhumanität vorhanden" sei, dass man in 14 Fällen nur von "Kindergefängnissen" sprechen könne: Das steht in dem Bericht "Verwaltete Kinder" der ehemaligen SPÖ-Nationalratsabgeordneten Irmtraut Karlsson - aus dem Jahr 1974.

"Die tägliche Gewalt und Demütigung hatten System und die Verantwortlichen sollen nicht so tun, als ob sie das nicht gewusst hätten", sagt Karlsson heute. "Es war alles bekannt. Es hat nur niemanden interessiert." Zwar wurde nach der Heimenquete 1971 beschlossen, die Großheime zu schließen - "das hat aber elendslang gedauert", sagt Karlsson. Erst im Jahr 2000 war dieser Prozess abgeschlossen.

Bericht zensuriert

1972 begann Karlsson mit ihrer Untersuchung. Zwei Jahre lang besuchte sie gemeinsam mit Studenten 34 Heime, in denen etwa 3000 Kinder von der Stadt Wien untergebracht waren. Ihre Ergebnisse durfte sie zwar 1974 veröffentlichen - allerdings nur zensuriert. Statt die Heime beim Namen zu nennen, durfte sie nur Kennnummern in die Texte schreiben.

"Der Wilhelminenberg war kein Sonderfall. Zwei Drittel der Anstalten waren geschlossene Anstalten, 14 eindeutig Kindergefängnisse", sagt Karlsson. Je nach Heim durften die Kinder nur zu bestimmten Zeiten aufs Klo gehen, sie mussten schweigend essen oder jedesmal aufspringen, wenn ein Erzieher den Raum betrat.

Manche Anstaltsleiter, etwa im berüchtigten Bubenheim Eggenburg, gaben zu, das Capo-System zu tolerieren, bei dem jüngere Kinder von Älteren misshandelt wurden. Schläge und sexueller Missbrauch durch andere Bewohner seien in Eggenburg verbreitet gewesen. "Das war ein sogenanntes Endstationheim, in das Kinder kamen, die in anderen Heimen hinausgeflogen waren."

Private Heime schlimmer

Die privaten Heime seien teilweise noch schlimmer gewesen als die städtischen, sagt Karlsson. Die Stadt habe Kinder dort untergebracht, weil das für sie günstiger gekommen sei. Im privaten Heim Altenberg in Niederösterreich sei sie selbst Zeugin sexueller Belästigung eines achtjährigen Mädchens durch den Anstaltsleiter geworden. Konsequenzen hatte das kaum.

Die Stadt schickte in der Folge zwar keine Kinder mehr dorthin - geschlossen wurde das Heim aber erst 1980. Karlsson wurde von der MA 11 nach ihrer Meldung daran erinnert, dass sie dem Amtsgeheimnis unterliege.

Systematische Massenvergewaltigungen, wie sie derzeit zwei ehemalige Bewohnerinnen des Heims am Wilhelminenberg behaupten, kann aber auch sie sich nicht vorstellen.

Möglicherweise auch Todesopfer

Der Anwalt zweier mutmaßlicher Opfer präsentierte am Dienstag bei einer Pressekonferenz weitere Vorwürfe gegen das Heim. In den späten 1940er und frühen 1950er-Jahren soll dort eine Mitarbeiterin ein Kind so misshandelt haben, dass es an den Folgen starb. Außerdem gebe es Indizien, dass es zu weiteren Todesfällen gekommen sei.

Laut Kurier behauptet ein ehemaliger Zögling, eine Lehrerin habe ein Kind ihrer Klasse am Wilhelminenberg zu Tode getreten. Die heute 69-jährige Heimbewohnerin soll auch von Vergewaltigungen in dem Heim berichtet haben.

"Uns ist ein Fall bekannt, der in Frage kommt", sagt Josef Hiebl vom Jugendamt. Das Amt habe die Akten bereits im Sommer 2010 an die Staatsanwaltschaft Wien weitergeleitet. Das Verfahren wurde allerdings nach zwei Wochen eingestellt, weil die Vorwürfe verjährt waren. Die Zeugin der angeblichen Misshandlung mit Todesfolge, eben die 69-jährige Frau, erhielt 35.000 Euro von der Opferschutzeinrichtung Weißer Ring, die Entschädigungen im Auftrag der Stadt Wien abwickelt.

Wiedergutmachung erhalten

Auch Öhlböcks beide Klientinnen haben vom Weißen Ring Wiedergutmachungen über je 35.000 Euro erhalten. Der Anwalt sieht das als Eingeständnis der Stadt, dass die beiden viel Schlimmeres erleiden mussten als andere Opfer - die Obergrenze für Entschädigungen liegt sonst bei 25.000 Euro, mehr wird nur in Ausnahmefällen gezahlt. Für Öhlböck ist allerdings auch das zu wenig: Er verlangt eine deutlich höhere Summe, Zahlen nannte er nicht.

Nach der Berichterstattung über die Fälle melden sich immer mehr ehemalige Bewohner von Wiener Kinderheimen beim Weißen Ring und anderen Opferschutzstellen. "Kaum legen wir auf, läuten unsere Telefone schon wieder", sagt Erika Bettstein, Sprecherin des Weißen Rings. Mittlerweile hätten sich mindestens 400 Opfer von Misshandlungen gemeldet. Die Meldefrist für Opfer von Misshandlungen und Missbrauch in städtischen Heimen wurde bis Ende Oktober verlängert. (Tobias Müller, DER STANDARD-Printausgabe, 19.10.2011)