Manche behaupten, das Werk von Mario Vargas Llosa, der sich als Liberaler im traditionellen Sinn des Wortes sieht, stehe politisch weit links vom Autor selbst.

Vargas Llosa, 1936 in Peru geboren, schreibt Essays, Romane und politische Kommentare. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane "Die Stadt und die Hunde" und "Das grüne Haus". 1990 trat er in Peru für die konservative Allianz als Präsidentschaftskandidat an, wobei er in der Stichwahl dem Außenseiter Alberto Fujimori unterlag. 2010 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er lebt in Lima und Madrid.

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 Der Nobelpreisträger über Subversion, Moral, die Krise und Religion. Mit Vargas Llosa sprach Stefan Gmünder.

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In seinem neuen Roman "Der Traum des Kelten" (Suhrkamp) schildert Mario Vargas Llosa das Leben des Iren Roger Casement (1864-1916), der die Brutalität der belgischen Kolonialmacht im Kongo und börsennotierter Firmen im Amazonasgebiet aufdeckte. Casement nahm am irischen Osteraufstand gegen die Briten teil und wurde hingerichtet. Diese Woche war Vargas Llosa in Wien, um seinen bei "Eine Stadt. Ein Buch" 100.000-fach gratis verteilten Roman "Der Geschichtenerzähler" vorzustellen und in der Hayek-Gesellschaft, der es gelang, den überzeugten Liberalen nach Wien zu lotsen, einen Vortrag zu halten.

Standard: Sie haben einmal gesagt, Auflehnung gegen die Realität sei die heimliche Triebfeder der Literatur. Schreiben als Revolte?

Vargas Llosa: Schriftsteller schaffen zusätzliche Realitäten und Möglichkeitsräume. Die Quelle des Schreibens ist oft Enttäuschung, Rebellion und die Sehnsucht nach einer anderen Welt. Literatur ist immer subversiv. Darum versuchen auch jene Regime, die über sich behaupten, die besten zu sein, Kunst über Zensur zu kontrollieren.

Standard: Worte sind also für die Mächtigen der Welt gefährlicher als Waffen?

Vargas Llosa: Unmittelbar sind Waffen viel verheerender. Aber längerfristig ist der Effekt von Ideen wichtiger als Waffen.

Standard: In Ihrem neuen Roman spielt Gier eine große Rolle.

Vargas Llosa: Roger Casement war ein großer Kämpfer gegen die, die Menschenrechte mit den Füßen treten. Was er tat, war sehr mutig, weil in Europa damals die Sichtweise dominierte, dass Kolonialismus den Kolonialisierten, also den Barbaren, Zivilisation, Modernisierung und den richtigen Glauben bringe. Er war überzeugt, dass das nicht stimmt, und zeigte, um was es wirklich ging. Nämlich um Ausbeutung, Brutalität und im Kongo um Genozid.

Standard: Der Kolonialismus wirft seinen langen Schatten bis heute.

Vargas Llosa: In vielen Fällen ja. In Südamerika sind wir seit 200 Jahren frei, aber das indianische Problem gibt es noch. Die Indios sind immer noch marginalisiert, sie werden ausgebeutet und diskriminiert. Die lateinamerikanischen Republiken haben die Probleme, die mit der Kolonialisierung begannen, immer noch nicht gelöst.

Standard: Sie bezeichnen sich als Liberalen im traditionellen Sinn des Wortes. Die unsichtbare Hand des Marktes scheint aber versagt zu haben?

Vargas Llosa: Nein. Die Märkte waren, ganz im Gegenteil, nicht frei genug. Es gab zu viele Einmischungen. Besonders die österreichische Schule des ökonomischen Denkens glaubte an die Bedeutung von Gesetzen und Spielregeln. Zur gegenwärtigen Krise hat ja gerade die Missachtung der Gesetze durch Unternehmer und Banker geführt. Die Regierungen tolerierten diese Missbräuche, und statt die Verantwortlichen zu bestrafen, wurde ihnen geholfen, man hat sie gerettet. Es ist diese Verzerrung, die zur Krise führte.

Standard: Und wie sieht es mit der Gerechtigkeit aus?

Vargas Llosa: Eine der wichtigsten Ideen Hayeks ist, dass Freiheit nicht in ökonomische, politische, soziale, kulturelle und individuelle Freiheit teilbar ist. Freiheit ist eine Einheit - und diese sollte gewahrt werden. Freiheit war für Hayek der Motor für den Friedens- und Zivilisationsprozess. Ich denke, diese Ideen sind auch in unserer heutigen Welt noch sehr gültig. Die technischen Entwicklungen haben allerdings dazu geführt, dass die Freiheit in vielen Ländern systematisch eingeschränkt wird, auch in solchen, in denen die liberale Idee sehr stark ist.

Standard: Moral scheint heute ein altmodisches Wort zu sein?

Vargas Llosa: Dieses Wort geht dem modernen Kapitalismus am meisten ab. Und dieser Mangel ist auch sein Hauptdefizit. Die moralische Dimension wurde von den großen liberalen Denkern immer stark betont. Es begann mit Adam Smith und endete bei Karl Popper, Friedrich Hayek oder Milton Friedman. Unglücklicherweise gibt es heute zu viel Toleranz gegenüber Korruption. Ohne Moral wird Korruption die Grundfeste unserer Demokratien zerstören.

Standard: Wie wichtig ist Religion?

Vargas Llosa: Ich denke, generell kann der Mensch nicht ohne Religion leben. Manche können Religion durch Kultur ersetzen, das ist bei mir der Fall. Daher ist es sehr wichtig, wie übrigens auch Hayek sagt, dass das spirituelle Leben in einer freien Gesellschaft gefördert werden sollte, weil für eine Mehrheit der Menschen Religion die moralische Basis liefert. Es gibt nur wenige, deren moralisches Bewusstsein auf Überzeugung und Kultur begründet ist.

Standard: Utopien führen oft zu Tyrannei.

Vargas Llosa: Alle Utopien haben zu Tyrannei geführt. Nur die Demokratie ist ein realistischer Weg, Gesellschaften zu organisieren. Gesellschaftliche oder militärische Utopien und ideologische Religionen haben immer in die Hölle und mit keiner Ausnahme zu brutalen Diktaturen geführt. Daher ist es wichtig, die Utopien vom politischen Feld in das künstlerische, literarische Feld zu überführen und damit hin zum Individuum. Nur ein Individuum kann eine Utopie realisieren, niemals eine Gesellschaft als Ganzes.
(DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2011)