SP-Stadtrat Christian Oxonitsch hat von der ganzen Dimension des Missbrauchsvorwurfs "erst durch die Medien erfahren".

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Standard: Seit wann wissen Sie von den Missbrauchsfällen am Wilhelminenberg?

Oxonitsch: Im Juli hat sich der Anwalt zum ersten Mal mit einem Schreiben an die Stadt Wien gewandt und wurde damals an den Weißen Ring verwiesen, der die Entschädigungsansprüche abwickelt. Im einem zweiten Schreiben im September wurden konkret Namen genannt. Deshalb wurde es am 28. September an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Von der gesamten Dimension der Fälle - vor allem vom vermuteten Todesfall - haben wir aber erst durch die Medien erfahren.

Standard: Bereits im Sommer 2010 hat die Kinder- und Jugendanwaltschaft 72 Fälle an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Da wussten Sie noch nichts von den Vorgängen am Wilhelminenberg?

Oxonitsch: Seit wir vor einem Jahr den Entschädigungsfonds und die Historikerkommission eingesetzt haben, wickeln wir ständig Fälle ab. Diese Dimension von Massenvergewaltigung war aber aus meiner Sicht neu.

Standard: Als Sie der Anwalt im Juli kontaktiert hat, war Ihnen nicht klar, dass er damit an die Öffentlichkeit gehen würde?

Oxonitsch: Nein. Es war einfach ein Schreiben eines Anwalts, der mit zusätzlichen finanziellen Forderungen an die Stadt herangetreten ist. Es ist das Recht eines Opfers, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Standard: Finden Sie, dass er Anwalt mit dem Fall richtig umgeht?

Oxonitsch: Dass ich nicht glücklich bin darüber, wie das gehandelt wurde, kann man sich vorstellen. Beim Vorwurf des Tötungsdeliktes wissen wir weder, wer das Opfer, noch wer der Täter war. Das macht die Ermittlungen schwer.

Standard: Missbrauchsvorwürfe gibt es seit den 1970ern. Warum hat es bis zum Jahr 2000 gedauert, bis die Heimreform durch war?

Oxonitsch: Die ersten, wesentlichen Schritte wurden schon in den 1970ern gesetzt. Ein Jahr nach Erscheinen des Berichts von Frau Karlsson ist das Schloss Wilhelminenberg gesperrt worden und nach und nach auch alle anderen dieser Heime. Es wäre unmöglich gewesen, die ganze Situation ad hoc zu verändern. Die Betreuer waren nicht ausgebildet, es braucht allein fünf, sechs Jahre, bis man genügend Pädagogen hat.

Standard: Es ist klar, dass so etwas nicht von heute auf morgen geht - aber 30 Jahre sind eine lange Zeit.

Oxonitsch: Es ist eine lange Zeit, ja. Aber es haben sich die Institutionen schon auch damals verändert. 1974 ist die Stadt des Kindes eröffnet worden, die nicht vergleichbar war mit dem Schloss Wilhelminenberg oder der Hohen Warte. Die Reform ist viel zu langsam gegangen, das ist klar. Aber aus heutiger Sicht darüber ein Urteil abzugeben, traue ich mir nicht zu. Ich weiß, wie herausfordern es ist, wenn solche Fälle, auch aktuell auftauchen. Wir informieren jetzt umgehend die Justiz und entlassen Leute oder stellen sie außer Dienst. Die Frage ist: Warum hat das damals nicht statt gefunden? Das soll sich jetzt die Kommission Wilhelminenberg anschauen.

Standard: Warum haben Sie ausgerechnet Barbara Helige zur Leiterin der Kommission bestellt?

Oxonitsch: Sie ist eine anerkannte Menschenrechtsexpertin und Richterin und wird für lückenlose Aufklärung sorgen.

Standard: Wie versucht die Stadt heute zu verhindern, dass es zu Gewalt kommt?

Oxonitsch: Wir haben gut ausgebildete Sozialpädagogen und offene Systeme. Kinder gehen in öffentliche Schulen, sie haben Freunde von innerhalb und außerhalb - es gibt also Möglichkeiten, Hilfeschreie auszusenden. Außerdem ist wichtig, dass die Mitarbeiter wissen: Es gibt von Seiten der MA 11 kein Pardon, wir machen bei Vorwürfen auf jeden Fall eine Anzeige. Das passiert etwa zehn mal pro Jahr.

Standard: Menschen aus der Jugendarbeit klagen über zu wenig Personal. Zudem sind die Standards der Ausbildung und der Kontrollen zwischen den Einrichtungen unterschiedlich. Gibt es da Pläne, etwas zu ändern?

Oxonitsch: Wir würden uns wünschen, das es endlich ein bundeseinheitliches Jugendwohlfahrtgesetz gibt. Je klarer die Standards sind, desto besser.

Standard: Das ändert aber nichts an zu wenig Betreuern für zu viele Kinder in den Notfallzentren.

Oxonitsch: Wir haben in den vergangenen Jahren die Wohngemeinschaften massiv ausgebaut, weil wir mit steigenden Gefährdungsmeldungen konfrontiert sind. Gerade in der wirtschaftlichen Krisensituation kommen Mehrkindfamilien unter Druck, wir müssen daher oft drei oder vier Kinder aus einer Familie abnehmen. Statt die dann auf vier Krisenzentren aufzuteilen, geben wir sie manchmal lieber in eines, auch wenn das damit dann überbelegt ist.

Standard: Ist Familienminister Reinhold Mitterlehner zu wenig bemüht um ein einheitliches Jugendwohlfahrtsgesetz?

Oxonitsch: Ich glaube nicht, dass das die Schuld des Ministers ist, sondern die der Länder. Wir waren aber noch nie so nah dran wie jetzt. Leider hat es schon länger keine Verhandlungen gegeben.

Standard: Das heißt, wenn der Minister jetzt nochmals alle Länder zusammenholen würde ...

Oxonitsch: ... wäre die Chance aus meiner Sicht relativ groß. Es soll jetzt aber noch vor Weihnachten eine Verhandlungsrunde geben.

Standard: Wäre es sinnvoll, eine bundesweite Kommission einzurichten?

Oxonitsch: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Grundlage dafür wäre aber ein einheitliches Jugendwohlfahrtsgesetz. (Andrea Heigl und Tobias Müller, DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.10.2011)