Risse, die durch Familien gehen: Nader (Peyman Moadi) und Termeh (Sarina Farhadi) in "Nader und Simin - Eine Trennung" .

Foto: Viennale

Asghar Farhadi, geb. 1972 in Isfahan, findet internationale Beachtung mit seinem Kinodebüt "Dancing in The Dust" (2003); 2009 erhält er den Silbernen Bären für "About Elly" , 2011 den Goldenen für "Nader und Simin".

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Standard: Das iranische Kino steht im Zentrum vieler Diskussionen, aktuell wegen der politischen Prozesse gegen die Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof. Unter welchen Bedingungen drehen Sie Ihre Filme im Iran?

Farhadi: Die Bedingungen hängen davon ab, wie Sie Filme machen. Es gibt viele Filmemacher, die ihre Arbeit machen, ohne dabei je in Konflikt mit der Zensur zu kommen. Die Zensur betrifft meist intellektuellere, anspruchsvollere Filme, aber auch diese Filme sind nicht alle aufrichtig. Es gibt auch darin Manipulation oder Vorzensur. Und es gibt schließlich eine dritte Kategorie von Filmen, für die die Zensur ein echtes Problem darstellt. Aber wir iranische Filmemacher sind quasi damit aufgewachsen. Nicht nur in der Politik und Gesellschaft, sondern in der Kultur überhaupt gab es Schranken, die wir beachten mussten.

Standard: Sie meinen, dass die Moralität die Gesellschaft unabhängig von der herrschenden Theokratie durchzieht?

Farhadi: Ja, meist wird es so dargestellt, als würde Zensur nur vonseiten des Regimes ausgeübt werden. Aber jenseits davon sind solche Regeln auf allen möglichen Ebenen bemerkbar: in der Familie, in der Schule, in der Kultur - es gibt Auflagen, die man in Betracht ziehen muss. Es sind Sittlichkeiten, gesellschaftliche Bedingungen, die man respektieren muss.

Standard: Ihre bekanntesten Filme, "Fireworks Wednesday" , "About Elly" und nun "Nader und Simin - Eine Trennung" , scheinen genau das zu verhandeln: das Übereinanderliegen und gegenseitige Sichdurchdringen verschiedener Schichten von Moralität.

Farhadi: Sie haben das richtig erkannt: Es geht um die Kritik der Mittelschicht als Träger dieser Moralität und Sittlichkeit, deshalb spielen die Geschichten auch in diesem Bereich.

Standard: Besonders "Nader und Simin" zeigt, wie aus dem Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Moralitäten Konflikte entstehen. Ihre Mittelschicht-Figuren leben in einem System, das maßgeblich von einer anderen Gruppe bestimmt wird, die sozial anderswo steht und weniger privilegiert ist.

Farhadi: Wenn man die Sache aus einer sozialkritischen Perspektive betrachtet, dann kommt es da zwischen zwei Schichten zu Konflikten, einem versteckten Kampf. Aber es ist nicht so, dass es innerhalb dieser Schichten ein einheitliches System gibt, auch in ihnen gibt es ein Zerren, Auseinandersetzungen - sie stellen keine Einheit dar. Es ist ein schwieriger Kampf, den alle Schichten sowohl gegeneinander als auch in sich selbst zu bewältigen haben.

Standard: Warum legen Sie das Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit auf die Mittelschicht?

Farhadi: Einmal gehöre ich selbst dazu, zweitens ist es die größte Schicht, die eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft spielt und auch im Vergleich zu anderen Schichten die Oberhand gewonnen hat. Die sind es letztendlich, die die Zukunft des Landes entscheiden, die müssen jetzt unter die Lupe genommen werden. Und auch kritisiert.

Standard: Die erste Szene von "Nader und Simin" entwickelt eine Grundformel. Die Bedürfnisse Ihrer Figuren, die vor einem Familienrichter sitzen, lassen sich nicht in die Sprache des Gesetzes übersetzen: Es kennt nur drei bestimmte Gründe für eine Scheidung - dies ist aber ein vierter Fall. Dieses Sprachspiel wiederholt sich im Film auf allen möglichen Ebenen. Ist das Ihr Bild vom Iran: dass es unmöglich ist, sich in der herrschenden Sprache zu artikulieren?

Farhadi: Das ist eine interessante Beobachtung. Es kommt daher, dass ich auch Theater studiert habe, und es ist ein Gedanke, der mich seit langem begleitet. Für mein Masterstudium habe ich mich mit der Rolle der Sprache bei Harold Pinter auseinandergesetzt. Ich glaube, dass die Sprache für die heutigen modernen Menschen ihre Funktionalität nach und nach verloren hat. Intentionen können nicht mehr durch die einfache begriffliche Sprache dargestellt und übermittelt werden. Im Film sehen Sie das auch in den Konflikten zwischen Nader und Simin: Die sprechen ja dauernd, aber die verstehen einander nicht. Und die Gewalt fängt dort an, wo die Sprache endet. Wenn der Dialog nicht mehr zustande kommt.

Standard: Die Mittelklasse-Figuren in Ihren Filmen sind davon geprägt, dass sie Konflikte nur bis zu einem bestimmten Punkt austragen können. Sehen Sie dieses Moment des Kompromisses auch in Ihren Filmen selbst? Ich denke an die Kopftücher, die die Frauen auch in Innenräumen tragen - offensichtlich eine Konzession an die Zensur.

Farhadi: Es gibt Prioritätssetzungen: Ich gehe einen Kompromiss ein, um etwas Wichtigeres, das lange Zeit unbeachtet geblieben ist, darzustellen: das Problem, das speziell die Frauen dieser Schicht belastet. Würde ich diesen Kompromiss nicht eingehen wollen, müsste ich auf die Darstellung dieser Schicht ganz verzichten, was ich auf keinen Fall möchte. Es ist auch ein Dokument an sich: Wenn man in fünfzig Jahren die Filme sieht und bemerkt, dass die Frauen im Privatraum Kopftücher tragen, dann werden Fragen auftauchen. Das ist gar nicht so schlecht.

Standard: Wir haben eingangs über die Bedingungen des Filmemachens im Iran gesprochen: Sind Ihre Filme so komplex, dass die Zensur gar nicht weiß, wo sie hinsehen soll - es sei denn aufs Offensichtlichste wie das Kopftuch?

Farhadi: Man könnte sagen, dass ich zweierlei Lösungen angewendet habe, um die Zensur zu umgehen. Ich lege keine Synopsis vor, sondern immer das ganze Drehbuch und später den ganzen Film. Wenn die zuständigen Personen sich das anschauen, sind sie auch emotional mitgenommen. Das ist auch ein Ziel von mir: Der Zensor muss emotional mit dem Film konfrontiert werden. Das Zweite ist, dass ich in meinen Filmen keine politischen Manifeste abgebe. Ich stelle nur Fragen. Aber das ist generell ein Charakteristikum meiner Filmarbeit - das mache ich nicht, um die Zensur zu umgehen.

Standard: Helfen der Goldene Bär und internationales Lob, oder führt das zu neuen Einschränkungen?

Farhadi: Es ist es natürlich gut, weil die Menschen angeregt werden, den Film zu schauen. Andererseits werden die Behörden sensibler. Die fragen sich vielleicht: Was ist denn da schiefgelaufen? Für manche in diesem System bedeutet Westen ja "großer Feind" . Deshalb sehen sie genauer hin, was ich als Nächstes mache.

Standard: In Jafar Panahis jüngstem, heimlich produziertem Film "In Film Nist" (Ko-Regie: Mojtaba Mirtahmasb) gibt es eine Stelle, in der er sagt, dass er unter den gegebenen Umständen nicht erwartet, dass Regisseure im Iran öffentlich für ihn eintreten. Sie haben sich bei der Berlinale-Preisverleihung ausdrücklich auf ihn bezogen.

Farhadi: Es gibt zahlreiche Filmemacher auch im Iran, die sich öffentlich gegen das Urteil ausgesprochen haben. Und es gibt viele, die in internen Gesprächen mit den Behörden für Panahi eintreten. Im Westen besteht bei Politikern vielleicht so etwas wie eine ungeäußerte Absicht, einen politischen Panahi darzustellen. Denen wäre es gleichsam lieber, dass er das Urteil auf sich nimmt, dass er als politischer Gefangener dargestellt werden kann. Panahi kümmert das wahrscheinlich weniger als die Möglichkeit, wieder arbeiten zu können.

Standard: Wie viele Zuschauer haben Ihre Filme im Iran?

Farhadi: Es gibt keine offiziellen Zuschauerstatistiken im Iran. Aber den Einnahmen zufolge ist Nader und Simin der erfolgreichste Arthouse-Film seit Jahren. (Robert Weixlbaumer/DER STANDARD, Printausgabe, 31. 10. 2011)