Die Gans mit dem Ethologen, auf den sie geprägt war.

Foto: A. Seitz

Es dürfte im deutschsprachigen Raum nicht ganz wenige Frauen geben, die ihren Vornamen - ich weiß, das klingt jetzt hart - einer Gans verdanken. Die Rede ist von Martina, dem wohl bekanntesten Tier aus der Menagerie des Verhaltensforschers Konrad Lorenz. Allein der Autor dieser Zeilen kennt zwei Martinas, deren Eltern von Lorenz' anrührenden Geschichten über die Graugans aller Graugänse (Anser anser) so begeistert waren, dass sie ihre eigene Tochter nach dem Tier benannten.

Unsterblich und weltberühmt wurde Martina durch Lorenz' populärwissenschaftlichen Bestseller Er sprach mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen (1949), in dem die Geschichte vom "Gänsekind Martina" ein ganzes Kapitel füllt. Der fabelhafte Erzähler Lorenz berichtet darin gleich amüsant wie lehrreich vom komplizierten Schlüpfen des Gössels am Ostermontag 1936 und der unbeabsichtigten Prägung auf Lorenz, der das Tier erfolglos wieder der Gänsemutter unterjubeln wollte. Die Folge: zahllose komische Situationen, die sich daraus ergaben, dass Lorenz viele Monate lang Gänsemutter spielen musste.

Die US-Wissenschaftshistorikerin Tania Munz (Northwestern University bei Chicago) hat in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts Historical Studies in the Natural Sciences (Bd. 41, Nr. 4, S. 405) diese wohl populärste Fassung von Martinas Biografie mit einigen weiteren Versionen verglichen, die Österreichs bisher letzter Nobelpreisträger (für Medizin, 1973) in einem halben Jahrhundert bis 1987 verfasste. Dabei machte Munz eine erstaunliche Entdeckung: Es scheint so, also ob Lorenz jedes Mal über eine andere Martina berichten würde, um seine Schlüsse dem jeweiligen Publikum schmackhaft zu machen.

Doch keine "dumme Gans"

Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte Martina, die übrigens nicht nach dem Martinigansl, sondern einer Freundin der eigenen Tochter benannt wurde, im Neuen Wiener Tagblatt Ende 1937. Unter dem Titel "Dumme Gans" wollte Lorenz dann genau das Gegenteil zeigen: Im Gegensatz zu vielen anderen Tier- und Vogelarten bekommen Gänse relativ wenig instinktmäßiges Wissen mit, müssen durch Erfahrung lernen und stehen damit geistig umso höher. Und während er zwölf Jahre später schrieb, dass er quasi durch Zufall vom Gössel als Vater adoptiert wurde, hieß es hier, dass er von Anfang an die Absicht hatte, "bei dieser Gans möglichst vollständig die Rolle des Elterntieres übernehmen" und er sie deshalb auch der Henne wegnahm.

Ihren ersten wissenschaftlichen Auftritt hat Martina dann 1938 beim Referat des frischen NSDAP-Mitglieds Lorenz am 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, wie Munz schreibt. Die zwei Aufsätze, die daraus entstanden, sind die beiden dicksten braunen Flecken auf der Publikationsliste des Verhaltensforschers. Lorenz versucht in den beiden Texten zu zeigen, dass seine Forschungen an Gänsen Rückschlüsse auf den Menschen zuließen und daher hohe politische Relevanz haben würden.

Der Verhaltensforscher befasste sich dabei insbesondere mit dem Problem der Domestikation, die durchwegs negative Auswirkungen hätte: Hausgänse etwa würden nicht so gesund und stark sein wie Wildgänse und außerdem früher geschlechtsreif und zu einem übersteigerten Sexualverhalten neigen. Ganz ähnlich sei es bei den degenerierten Großstädtern, deren "Verfallstypen" alle möglichen negativen Eigenschaften besäßen. Dabei nahm Lorenz fatalerweise auch das Wort "Ausmerzung" in den Mund.

Wie Munz entdeckte, versteckt sich Martina in einem der Texte unter dem "Pseudonym" Ma: Die Wildgans habe gemeinsam mit dem Ganter M(artin) "eines der vollwertigsten Gänsepaare" gebildet, das er besessen habe. Während die domestizierten Hausgänse wahllos mit allen möglichen Gänsen (wild und domestiziert, männlich und weiblich) Sex hätten, würden sich diese beiden Wildgänse sich in ihrem Paarungsverhalten quasi rassisch korrekt sowie harmonisch verhalten.

Ihren letzten großen Auftritt hat Martina dann kurz vor Lorenz' Tod, fast 50 Jahre später - und der klingt dann fast wie eine Entschuldigung auch für Lorenz' damalige politische Verirrungen. In seinem großen Grausgans-Buch Hier bin ich, wo bist Du wird Martina nämlich - ganz anders als noch zur NS-Zeit - in gewisser Weise als Opfer der Prägung auf ihn beschrieben.

Schädigung durch Stress

Er glaubte jetzt zu wissen, dass Martina sich durch den Stress aufgrund dieser Behandlung schlechter entwickelte als ihre Ziehgeschwister, andererseits aber früher geschlechtsreif wurde. Entsprechend fand die Paarung mit Martin ein Jahr zu früh statt - ehe sich die beiden "durch Flucht dem Stress entzogen, dem sie ständig ausgesetzt waren".

Gänsevater Lorenz wurde vielfach dafür gescholten, von der Gans auf das Ganze geschlossen zu haben. Munz' erhellender Artikel verweist auf ein weiteres, tiefer liegendes Problem: Es scheint so, als ob Lorenz das Gänseverhalten für seine eigenen Schlüsse etwas zurechtgebogen hätte. (tasch/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 11. 2011)