Tirana - "Noch ein Mädchen", sagt Roza verzweifelt zu dem Arzt, während ihr Tränen über das blasse Gesicht laufen. "Ich kann es nicht behalten, Doktor, ich habe schon drei Töchter." Die schmächtige 28-Jährige mit den grauen Strähnen im Haar ist im vierten Monat schwanger, eine legale Abtreibung ist somit nicht mehr möglich. Doch Roza ist entschlossen, das Baby loszuwerden, auch wenn sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzt. In Albanien ist das eine allzu häufige Szene. Der Europarat warnt bereits vor einem Ungleichgewicht zwischen Buben und Mädchen wegen geschlechtsselektiver Abtreibungen. Normalerweise kommen 105 Buben auf jeweils 100 Mädchen, in Albanien sind es 112 Buben auf 100 Mädchen.

Größtes Ungleichgewicht in China, Indien und Vietnam

Bisher geriet das Geschlechterverhältnis vor allem in asiatischen Staaten durch Abtreibungen aus der Balance. Zahlen der Vereinten Nationen zufolge haben China, Indien und Vietnam das größte Ungleichgewicht. Nun warnt der Europarat, die Praxis breite sich auch in Europa aus, insbesondere in Albanien, Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Nach einem Bericht des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) von 2005 bevorzugen albanische Familien traditionell männliche Nachkommen. Sie sichern den Erhalt des Familiennamens und sorgen später für die Familie.

Mädchen gelte als schwere Last

"Diese Mentalität ist geblieben", sagt die Anthropologin Aferdita Onuzi. "In bestimmten Gegenden gelten Mädchen immer noch als schwere Last." Für Frauen wie Roza ist das ein ganz persönlicher Alptraum. "Beim letzten Mal hat mich mein Mann fast umgebracht. Er wurde gewalttätig, als er erfuhr, dass ich ihm keinen Sohn geben konnte, ebenso meine Schwiegermutter", erzählt die junge Frau.

Fristenlösung vor 20 Jahren eingeführt

Albanien legalisierte die Abtreibung zu Beginn der 90er Jahre. Seitdem ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlaubt. Zwar sind Abtreibungen aufgrund des Geschlechts ausdrücklich verboten, doch sieht das Gesetz laut Europarat keine Strafen vor. Seit das Geschlecht des Kindes per Ultraschall im Mutterleib festgestellt werden kann, breitet sich die Praxis aus. Für umgerechnet etwa 15 Euro ist ein Ultraschall für die meisten erschwinglich. Und eine Abtreibung, die Privatkliniken für etwa 150 Euro anbieten, ist viel billiger als ein männlicher Nachkomme per künstlicher Befruchtung, die Tausende von Euros kosten kann.

Soziale Probleme als Folge

In einer Resolution wies der Europarats im Oktober darauf hin, dass die pränatale Geschlechtsselektion "besorgniserregende Ausmaße" angenommen habe. ExpertInnen warnen bereits, ein solches Ungleichgewicht bringe die demografischen Strukturen durcheinander, fördere den Frauenhandel und stifte Unfrieden zwischen jungen Männern, die keine Partnerinnen finden. Die 47 Staaten umfassende Organisation forderte Albanien, Armenien, Aserbaidschan und Georgien deshalb auf, die Gründe für das gestörte Geschlechterverhältnis zu erforschen und die Geburtenraten zu überwachen.

Tirana, das sich Hoffnungen auf eine EU-Beitrittskandidatur macht, sieht jedoch keinen Handlungsbedarf. Dem Europarat zufolge argumentiert die Regierung, das ungleiche Geschlechterverhältnis sei ein "sporadisches Phänomen", das zudem nur in einigen abgelegenen Gebieten auftrete.

Krankenhausdirektorin Rubena Moisiu schlägt eine einfache Lösung vor: Sie will die Geschlechtsbestimmung der Föten verbieten lassen. Bisher laute die erste Frage bei vielen Albanerinnen: "Ist es ein Bub oder ein Mädchen?", und nicht: "Ist das Baby gesund?". "Es ist diese Mentalität, die wir ändern müssen", fordert Moisiu. (APA)