Die Frage, wie fest Bashar al-Assad noch im Sessel sitzt, ist nicht leicht zu beantworten. Unleugbar war es ein schwerer politischer - und psychologischer - Schlag für das Regime, dass Syrien, die Wiege des arabischen Nationalismus, von der Arabischen Liga fallengelassen wurde. Aber danach wird es schwierig, zwei Sets widersprüchlicher Tatsachen stehen einander gegenüber.

Ein Indikator, der für die relative Stabilität des Regimes sprechen würde, wäre etwa, dass bis heute - ganz im Gegensatz zu Libyen oder auch zum Jemen - eine Absetzbewegung ranghoher Militärs ausgeblieben ist. Gleichzeitig wächst jedoch die Zahl der Deserteure unterer Ränge. Es ist schwer zu sagen, ob oder wann die Quantität der Desertionen ein Ausmaß erreichen kann, in dem sie die mangelnde Qualität wettmacht und die Armee-Balance trotzdem kippen lässt.

Die Loyalität der Armeekader kann auch negativ gelesen werden als Bewusstsein der alten Elite, dass sie weiß, dass sie nur die Wahl zwischen Überleben und Untergang hat - sie sieht keinerlei Möglichkeit zu Rückzug und Reintegration. Das verstärkt die Gefahr eines Bürgerkriegs massiv.

Die Anzeichen dafür lassen sich nicht mehr verleugnen. Die Angriffe der Free Syrian Army (FSA) auf Armeeeinrichtungen setzen auch Fragezeichen hinter die Machbarkeit und die Realitätsnähe des Friedensplans der Arabischen Liga. Vielleicht ist das ja auch genau der Sinn dieser Angriffe. Die friedliche Opposition will den Weg zurück zur Mediation ebenfalls nicht gehen. In diesem Sinn vertritt die FSA jetzt die Interessen der demokratischen Opposition - ob sie das immer tun wird, bleibt zu sehen.

Der Paradigmenwechsel im Konflikt selbst lässt wiederum die Bewertung von außen nicht unberührt: Ein Beispiel dafür ist die momentane relative türkische Zurückhaltung, nachdem Ankara in den vergangenen Wochen und Monaten Assads Gegner im Ausland vor sich hergetrieben hat - offenbar mit der Illusion, die Geschehnisse kontrollieren zu können. Nun beginnt man zu begreifen, dass die Türkei von einem Konflikt, in dem die konfessionellen Züge unleugbar sind, in Mitleidenschaft gezogen werden könnte - abgesehen von den zu erwartenden Flüchtlingsströmen und Wirtschaftsproblemen.

Die Sanktionen gegen die syrische Wirtschaft werden oft als "sauberste" Möglichkeit gesehen, die Assads mittelfristig loszuwerden. Die historische Erfahrung zeigt, dass solche Regime in dieser Beziehung einen relativ langen Atem haben: Sie scheuen sich nicht, ihren Bevölkerungen große Entbehrungen zuzumuten. In Syrien ist die Lage insofern etwas anders, als das Land so gut wie keine Reserven hat und das Regime stark vom - offenbar weitgehend intakten - Rückhalt der breiten Händlerklasse in Damaskus und Aleppo abhängt: Würde diese wegbrechen, würde es schwierig.

Trotzdem sollte man bei lang andauernden Wirtschaftssanktionen immer auch den Kollateralschaden für die Gesellschaft mitdenken: Not und Elend in der Bevölkerung und die Schwächung der Mittelklasse bereiten ganz bestimmt nicht den fruchtbaren Boden für Demokratie und Pluralismus, sondern fördern vielmehr Radikalität und - in Syrien ohnehin schon im Übermaß vorhanden - die Attraktion religiöser Lösungen. Wenn in einer späteren Phase noch eine militärische Intervention dazukommt, sollten jene, die intervenieren, zumindest keine Dankbarkeit von den Befreiten erwarten. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2011)