Marina Ottaway ist Nahost- und Afrika-Expertin am Carnegie Endowment for International Peace in Washington.

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Mit der Ägypten-Expertin vom Carnegie-Endowment sprach Gudrun Harrer.

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STANDARD: Auf den ersten Blick sehen die Demonstrationen aus wie "Alle gegen den Militärrat". Aber geht es nicht auch um "Säkulare gegen Islamisten"?

Ottaway: Das "Selmy-Dokument" zeigt, dass das Militär die Macht nicht abgeben und keine zivile Kontrolle will. Dagegen sind sowohl Islamisten als auch Säkularisten. Aber zu einem gewissen Aspekt des Dokuments haben sie völlig unterschiedliche Positionen. Es enthält nämlich auch einen sehr detaillierten Vorschlag, wie die verfassungsgebende Kommission gebildet werden soll. Eigentlich sollte ja das Parlament diese Kommission etablieren, aber das Selmy-Dokument legt genau fest, wer darin vertreten sein wird - und das Parlament wird dabei ganz wenig zu sagen haben.

Das heißt: Das Militär wählt die Verfassungskommission - und im Großen und Ganzen passt das den säkularen Parteien, während die Islamisten dagegen wüten. Denn es bedeutet, dass die Islamisten kaum einen Einfluss beim Schreiben der Verfassung haben werden, egal wie gut sie bei den Wahlen abschneiden.

STANDARD: Was wird passieren, wenn das durchgezogen wird?

Ottaway: Dann kommen sehr unruhige Zeiten auf Ägypten zu. Und wenn die Militärs diese Unruhe abstellen, werden wir so etwas wie ein neues Mubarak-Regime haben - und irgendwann den nächsten arabischen Frühling.

Ich denke, der einzige Weg für eine echte Transition ist, dass das Militär und die Säkularen akzeptieren, dass das gewählte Parlament an der Verfassungsgebung beteiligt werden muss. Die säkularen Parteien verstecken sich hinter dem Militär, um die Islamisten zu marginalisieren. Mit dieser Einstellung wird es keine normale Transition geben und auch keine Demokratie. Denn ob es uns gefällt oder nicht: Die Islamisten sind Teil des gesellschaftlichen und politischen Gefüges des Landes.

Schauen Sie, in Tunesien hat Ennahda über 40 Prozent der Stimmen gewonnen, und nun wird sie eine Koalitionsregierung bilden - und weiß, dass sie für die Verfassung einen Kompromiss akzeptieren muss. Verfassungen werden nicht mit einer einfachen Mehrheit verabschiedet, so wird es nicht passieren, dass die Islamisten den Prozess komplett dominieren. In Ägypten hingegen wollen die Säkularisten die Islamisten komplett marginalisieren.

STANDARD: Und sind somit undemokratischer als die Islamisten?

Ottaway: Jedenfalls ist das nicht gerade demokratisch - ich verwende gerne den Vergleich zu Europa in den 1920/30ern: Damals hat sich die Mittelklasse aus Angst vor dem Kommunismus dem Faschismus in die Arme geworfen. Auch jetzt haben Sie eine Mittelklasse - wobei auch viele Islamisten Mittelklasse sind -, also eine säkulare Klasse, die den Autoritarismus einer Demokratie vorzieht, die die Muslimbrüder beteiligt.

STANDARD: Aber in Ägypten haben wir doch längst weniger vor den Muslimbrüdern als vor den viel strengeren Salafisten Angst.

Ottaway: Wir haben keine Ahnung, wie die Balance zwischen beiden Gruppen aussieht. Aber ich möchte betonen, dass die Position der Säkularisten schon so war, bevor die Salafisten am Horizont erschienen sind.

STANDARD: Wie stark oder schwach sehen Sie die Liberalen, die Linke vor den Wahlen?

Ottaway: Sie sind sehr schwach, aus zwei Gründen. Erstens streiten sie ständig, spalten sich, gründen neue Parteien. Zweitens haben sie nicht genug Zeit verwendet, zu den Leuten zu gehen und ihre Parteien aufzubauen. Die Muslimbrüder, wie Ennahda, haben das getan. Die Säkularen kämpfen, indem sie Kommentare in Zeitungen schreiben.

STANDARD: Die politische Landschaft ist sehr komplex, dann noch das komplizierte Wahlrecht ...

Ottaway: Das wirkliche Problem ist, dass diese Wahlen sich so lange hinziehen: Wenn die Regierung die Wahlergebnisse des 28. November - da wird unter anderem in Kairo gewählt - kurz nach dieser Wahlrunde veröffentlicht, dann wird das die nächste Runde beeinflussen. Und wenn sie das nicht tut, dann werden die Leute unweigerlich sagen: Ihr habt diese Wahlurnen so lange in Verwahrung gehabt, wer sagt, dass ihr sie nicht in der Zwischenzeit selbst gefüllt habt? (DER STANDARD, Printausgabe, 21.11.2011)