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Wladimir Sorokin glaubt, dass das von Wladimir Putin aufgebaute Image nicht mehr lange hält.

Foto: EPA/ARNO BURGI

Mit ihm sprach Herwig Höller.

Graz - Russlands Intellektuelle erörtern derzeit die Frage, inwiefern das aktuelle Russland mit der Sowjetunion der siebziger und frühen achtziger Jahre, der sogenannten Stagnationszeit, zu vergleichen ist. Es ist genau diese Diskussion, die sowjetische Konzeptkünstler und Poeten wie Dimitrij Prigow (1940-2007) oder den Schriftsteller Wladimir Sorokin unerwartet höchst aktuell machen. Letzter hat sich schon vor dreißig Jahren mit der Sprache der späten Sowjetunion beschäftigt und zuletzt Schlüsselwerke verfasst, in denen er die Essenz von Putins Geheimdienstrussland literarisch meisterhaft verarbeitete.

Das Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten widmet sich am Wochenende nun diesen Parallelen. Neben einer Prigow-Retrospektive werden Gerichtsverfahren gegen kritische Kunst erörtert (Samstag, 14 Uhr) und schließt ein russisches Lesefest (Sonntag, 16 Uhr) dieses Minifestival ab. Es lesen herausragende Autoren aus Russland, etwa die Lyrikerin Olga Martynowa oder Linor Goralik, die sich auch im Internet einen Namen gemacht hat. Und natürlich Starautor Wladimir Sorokin.

STANDARD: Sie haben mit "Der Tag des Opritschniks" (2006, deutsch 2008) und "Der Zuckerkreml? (2008, deutsch 2010) zwei antiutopische Bücher veröffentlicht, die von einem künftigen, völlig vom Geheimdienst beherrschten Russland handeln. Woher rührt Ihr Interesse an dieser Thematik?

Sorokin: Ich hatte eigentlich nur eine Idee: Eine Situation zu modellieren, die beschreibt, was nach dem Bau einer "Russischen Mauer" passieren würde, die nach dem chinesischen Vorbild vor äußeren Feinden schützen sollte und dabei Russland isolieren würde. Besonders hat mich dabei interessiert, mit welcher Sprache in so einem Land gesprochen würde: Das wäre eine Sprache des 16. Jahrhunderts (die Epoche Iwan des Schrecklichen, Anm.), die auf zeitgenössische Technologie übertragen wird.

In diesem Zusammenhang sagen derzeit übrigens viele Menschen in Russland, dass sie kein Gespür mehr für die Zukunft haben. Das ist deshalb passiert, da die Vergangenheit in den letzten zehn Jahren die Gegenwart aufgegessen hat und diese Gegenwart verzehrt nun die Zukunft. Dieses Phänomen hat mich motiviert, die beiden Bücher zu schreiben.

STANDARD: 1983 verfassten Sie "Die Schlange", einen Text, der ausschließlich aus Dialogen beim Anstellen in der Sowjetunion besteht. Nun verfassten Sie in "Der Zuckerkreml" ein gleichnamiges Kapitel, das sehr ähnlich funktioniert. Wie beurteilen Sie die aktuelle Diskussion, in der die Ära Putin mit der Stagnationszeit verglichen wird?

Sorokin: Alle reden jetzt davon, insbesondere nachdem klar wurde, dass Genosse Putin in das Präsidentenamt zurückkehrt. Zweifelsohne hat dieser Vergleich seine Berechtigung. Als ich mein Buch schrieb, hatte ich aber gar nicht so sehr die Stagnationszeit vor Augen. Sondern eine Rückkehr in eine weiter zurückliegende Vergangenheit, in der das russische Leben insgesamt Stagnation bedeutet. Aber derzeit nehme ich sehr stark einen Geruch wahr, der mich fatal an das Jahr 1984 erinnert. Das ist wohl kein Zufall.

STANDARD: Was bedeutet das?

Sorokin: Das ist wie beim späten Juri Andropow (1914-1984, Kurzzeit-Staatsoberhaupt der Sowjetunion, zuvor KGB-Chef und Vorbild Putins, Anm.): Er hatte zwar noch ein starkes Image, war aber schon schwerkrank und beherrschte die Situation dann nicht mehr. Das Gleiche passiert jetzt mit Putin.

STANDARD: Der vergangene Woche in einem Moskauer Stadion offensichtlich ausgepfiffen wurde.

Sorokin: Genau. Denn es ist klar, dass Putins Image nicht mehr funktioniert. Und das ist ein unumkehrbarer Prozess.

STANDARD: Die zwei erwähnten Bücher müssten eigentlich auch in Geheimdienstkreisen auf Interesse gestoßen sein: Haben Sie Rückmeldungen bekommen?

Sorokin: (lacht) Einstweilen gab es keine Gespräche. Warum nicht? Da müssen Sie schon beim Geheimdienst fragen.

STANDARD: Im Rahmen des Grazer Minifestivals wird auch die Verfolgung von Künstlern durch russische Behörden thematisiert. Auch wenn das Verfahren gegen Sie schließlich eingestellt wurde: 2002 warf Ihnen die Moskauer Staatsanwaltschaft vor, Sie würden mit Ihrem Roman "Der himmelblaue Speck" Pornografie verbreiten. Hatten Sie seit damals erneut Probleme?

Sorokin: Einstweilen nicht mehr. Ich habe dafür auch eine Erklärung: Ich habe nach der damaligen Geschichte eine gewisse Immunität entwickelt. Und wahrscheinlich hält das diese Menschen auf. (Herwig Höller, DER STANDARD - Printausgabe, 26./27. November 2011)