Jürg Laederach: "Harmfuls Hölle", Suhrkamp 2011

Foto: Suhrkmap Verlag

Wien - Harmful, der Held in Jürg Laederachs neuem Erzählband, lebt in eigentlich unzumutbaren Verhältnissen. Als Wohnstätte dient ihm ein beengendes Holzreihenhaus. Platz verschafft er sich durch Betätigung einer Kurbel, die einen fabelhaften Mechanismus in Gang setzt: Die "Lageorte" werden mit Energie gespeist und fahren den bedrängten Mietern unter die Füße.

Auch sonst steht es mit Harmful nicht zum Allerbesten. Seine Frau Arti bringt ein Schuppentier namens "Grat" zur Welt, das unter dem Bett eine Pfütze bildet und gelegentlich mit einer Katze gefüttert wird. Prompt sieht sich Harmfuls Sippe nach einer neuen Wohnhülle um. Man fährt in Reihenhaussiedlungen der Umgebung, "in eine andere Welt, nicht genmutiert, aber kurz davor": In dieser netzen "würdige ältere Männer mit Gießkannen einzelne Grashalme, die sie dann mit Brillentüchern putzen". Ein Haus hebt "sein Ballerinenröckchen leicht an, bis man seinen Grundbeton sah".

Der Basler Laederach (65) ist der Hochseilartist unter den deutschsprachigen Prosakünstlern: Er spannt unmöglich scheinende Ereignisketten, die er im nächsten Augenblick, durch bloßes Innehalten oder durch die Beschwörung einer Störung, zerreißt.

Oder er denkt sich in das Gegenteil eines soeben skizzierten Sachverhalts hinein. Mitunter verbündet sich Laederach mit der Dingwelt, um seine Figuren zu flexibleren Verhaltensweisen zu provozieren: Mitten "im Schwebe-Nichts der brüllendsten Fröhlichkeit" werden Menschen wie Harmful in ein Vorleben als Schweine zurückversetzt. Sie finden sich in der Garküche eines russischen Gulags wieder, oder sie hören von oben ein Klopfen: von dorther also, wo "der Keller des Nachbars" liegt.

Sound und Sinn

Es gibt keinen Sound, der mit Laederachs Sprach-Improvisationen vergleichbar wäre. Der Argentinier Julio Cortázar (1914-1984) mag ähnlich verwickelte Planspiele entworfen haben, ohne jemals den Boden der Alltagsvernunft mit derart vielen Sprengminen zu spicken. Gründerväter der literarischen Hochmoderne wie Carl Einstein und Mynona trieb zu Anfang des 20. Jahrhunderts der nämliche Ingrimm an: Auch sie packten den Stier der technischen Rationalität bei den Hörnern.

Zu guter oder schlechter Letzt besteht aber auch die wissenschaftliche Weltaneignung nur aus Grammatik. Laederach kann - wie in Höltys Biographieverlust, dem Meisterstück von Harmfuls Hölle - zugleich von der Vergangenheit erzählen und über die Zukunft spekulieren. Indem er zum Hannoveraner Dichter Ludwig Hölty (1748-1776) einen Großneffen hinzuerfindet, besiedelt er den Saturn neu. Die fingierte Biografie des Hermann Hölty, geboren in Uelzen auf dem Saturn im Jahre 18028 (sic!), mündet in eine Art logischen Kreisverkehr: "Gedächtnisbildschirme" fallen der Wühlarbeit von "Nanomäusen und Rasterratten" zum Opfer.

Diejenigen Maschinen, die unser aller Leben verzeichnen, geben den Geist auf. Prompt geraten Geburten und Todesfälle durcheinander. In einer "wild-schönen Berg-, Gasfontänen- und Waldgegend" wird das "Weltbetreten" zum unwahrscheinlichen Fall. Ganze Stammbäume krachen morsch in sich zusammen: "Und eine Mutter der späteren Geschlechter wollte dies alles noch einmal erleben, während der spätere Vater vor allem die Mutter erleben wollte."

Der dies alles stellvertretend für uns erlebt, heißt Laederach. Sein Band Harmfuls Hölle ist ein Meisterwerk dieses deutschsprachigen Literaturherbstes. Es ist dem Autor zu wünschen, dass der Suhrkamp-Verlag sich mit erneuerter Energie um das Werk dieses Inkommensurablen bemüht. Denn, wie Laederach schreibt: "Die Kunst ist das Waldorf-Astoria des Lebens, und das menschliche Gemüt ist die große Stadt in der Stille, das musst du berücksichtigen." (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 28. November 2011)