Unser Autor Tex Rubinowitz wünscht sich zu seinem 50er wieder eine neue Hand.

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"Fünfzig Jahre zu sein bedeutet, dass man eigentlich alles erlebt hat": Nicht nur Guido Westerwelle und Dirk Bach, sondern auch die Berliner Mauer wurde 50.

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Geburtstagsprofi Johannes Heesters wird am Montag 108 Jahre.

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Am Montag, dem 5. Dezember, werde ich fünfzig Jahre alt, kein Grund, darum großes Gewese zu machen, ich hätte es auch ganz übersehen, wenn mir nicht zufällig aufgefallen wäre, durch meine innere Trist-o-meter-App, dass verblüffend viele Melancholiker ebenfalls mit mir dieses Jahr fünfzig geworden sind (bei mir ist es ja eher die Schwermut des Übermüdeten, von einem, der gerade mal ein bisschen Restleidenschaft entwickeln kann, wenn er Gelegenheit bekommt, tagein tagaus Listen zusammenstellen zu können, in der ungelüfteten Stube, statt Sudoku), hier meine Jahrgangskollegen: Leif Garrett (sang für Ron L Hubbard, dann mit den Melvins, jetzt Crackhure), Forest Whitaker (Ptosis-Auge), Michael J Fox ("Hallo McFly, jemand zu Hause?"), Klaus Nüchtern (Vizepräsident der Cloud Appreciation Society), Boy George ("Do you really want to make me cry?", kehrt jetzt die Straßen von London), Dave Mustaine (bei Metallica rausgeflogen, musste weinend mit dem Bus von LA nach NY nach Hause fahren), Tim Roth (Gary Oldmans kleiner gehänselter Bruder in der Skinheadposse Meantime, Roths bestem Film), Scott "Wino" Weinrich ("Every time I'm on the street / People laugh and point at me / They talk about my length of hair / And the out of date clothes I wear"), Christiane Rösinger ("Mein zukünftiger Exfreund"), Kati Outinen (Das Mädchen aus der Streichholzfabrik), Sophie Rois (Ottensheim / Oberes Mühlviertel), Ricky Gervais (Wernham Hogg / Slough), KD Lang (Crying), Jeffrey Dahmer, Berliner Mauer, Sven Regener, Nastassja Kinski, Lady Diana Spencer, Ulrike Folkerts, Enya, und ä Eddy Murphy (Bowfingers große Nummer), und auch wenn ein Bekannter, der zehn Jahre jüngere Zeit-Feuilletonchef Ijoma Mangold, zu meiner Liste, die ich ihm vorlegte, meint: "Tex, Sie fahren da wirklich schweres Geschütz auf, aber mich beschleicht der Verdacht, Sie haben genussvoll und mühsam zugleich so lange gesucht, bis Sie diese dramatische Reihe wasserdicht gekriegt haben. Aber dass auch die Berliner Mauer in dieser Taxonomie auftaucht, ist sehr goldig." Goldig? Was soll am Schicksal der Mauer weniger bedrückend sein als an jenem Jeffrey Dahmers? So eine "wasserdichte" Ballung an Schwermut und Trübsal kriegt er mit seinem unbehaglichen Einundsiebziger-Sanguinikerjahrgang nicht zusammen, es ist doch bloß der Neid, der da aus Mangold spricht.

Wozu Altersangaben?

Ich hasse Geburtstage, nein, hassen ist zu viel der Ehre, sie sind mir einfach lästig, vor allem sogenannte runde, aber ich kokettiere gerne mit ihnen, wie kann man einen Geburtstag ernst nehmen, wie sich feiern lassen, für was? Was ist die Leistung? Dass man bis jetzt so einigermaßen über die Runden gekommen ist? Na, vielen Dank.

Gut, es gibt sinnlosere Feste, willkürlichen Unsinn wie Weihnachten und Silvester, Ereignisse, die die niedrigsten Bedürfnisse einer Gesellschaft, die sich darin gefällt, in einer kollektiven Schwarmdemenz aufzugehen, anspricht. Aber Geburtstag ist ja etwas anderes, das steht nun mal überall, ich bekomme von meinem Optiker einen schmierigen Geburtstagsgruß, was erhofft er sich davon, dass ich meine roten Augen ruiniere, damit ich mir jedes Jahr eine neue Brille bei ihm abhole? Meine Augen sind sowieso schon im Arsch, aber ich habe das Geld nicht, die Krankenkassen zahlen keine Brillen mehr, ich lese einfach keine Bücher und Zeitungen mehr, verschwinden ja sowieso gerade, und auf dem iPad kann ich die Schrift größer machen.

Dann gibt's ja noch dieses schwachsinnige Bonmot, dass man immer so alt ist wie man sich fühlt, nur gonokokkengesichtige Gaukler sagen das, wozu braucht man das alles, um eine vollkommen unschuldige Zahl zu rechtfertigen? Wozu Altersangabe? Dass ich weiß, wann ich zur Schule gehen muss, zur Arbeit, dass ich ungefähr weiß, dass ich demnächst sterbe? Himmel, ich kann morgen von einem Irren, oder meinetwegen auch von einem Normalen, von hinten in den Kopf geschossen werden, ein Traumtod im Übrigen, und was hab ich dann von meinen fünfzig Geburtstagen, die ich mir hier so mühsam aufgestapelt habe? Ich könnte ja auch sagen, also die ersten 16 Jahre ziehen wir mal ab, das waren die schlimmsten, sinnlosesten, ab dann ging das Leben etwas besser, als ich mit sieben Fünfern von der Schule flog, schön, jetzt bin ich also 34. Und jetzt? Ich weiß auch gar nicht, was ich als Fünfzigjähriger nicht mehr können kann oder zu was ich noch imstande bin, ich gehe nicht zum Arzt, ich war noch nie beim Arzt, ich lese keine Statistiken über den körperlichen und geistigen Verfall, ich kenne weder meinen IQ noch meinen BMI (Body-Mass-Index), ich kann anständig einen Marathon absolvieren, und ich kann mich auch "mal gehen lassen", geht doch alles, außer dass Muskelkater und Postalkoholdepressionen jetzt länger bleiben. Ich hab keine Falten, kein graues Haar und keine Glatze, keinen Bauch, weder Magen- noch Rückenprobleme, ich schlafe gut und hab nur eine einzige Plombe, und die ist golden. Sex hab ich bereits vor vielen Jahren abgeschafft, man muss nicht allzu klug sein, um zu erkennen, dass man sich dabei nur lächerlich macht, das Ziel steht in einem grotesken Missverhältnis zu Weg und Aufwand, sechzigsekündiges egoistisches Aufeinandergeklatsche, bei dem sich zwei entfernte Gesichter erstaunt anstarren wie sterbende Karpfen, und Nacktheit sowieso stillos ist und zu nichts führt, ich esse auch nichts Besonderes, nur nach nichts schmeckende, vollkommen unraffinierte Speisen, oben geht's rein, unten geht's raus, warum soll man das verbrämen oder zelebrieren, was haben die Darmzotten davon? Man atmet doch auch nicht raffiniert. Ein sehr interessantes Phänomen taucht allerdings in letzter Zeit auf, ich werde betrübt von türkischem Essen, eine kleine Umfrage im Bekanntenkreis hat ergeben, dass es nicht nur mir so geht und man das auf das Gewürz Kumin zurückführt, das häufig in der türkischen Küche Verwendung findet, die Alterskreuzkümmelmelancholie, es gibt weit unschillerndere Altersgebresten.

Ich habe immer diejenigen bedauert, die an Glück und Harmonie und ein erfülltes langes Leben glauben und darauf hoffen. "Ein erfülltes Leben", es klingt so schrecklich wie vermutlich dann diese Leben aussehen, in denen dieser Wunsch in jeden neuen Tag gefüllt werden muss.

Diese wenigen fünfzig Jahre

Wie ignoriere ich jetzt meinen Geburtstag? Kann man das eigene Leben ignorieren? Ich hab das ein paar Mal versucht, bei Wikipedia in meine Biografie zu pfuschen, Zahlen auszutauschen, mich älter zu machen oder mit einem dritten Bein zu versehen, aber das geht nicht, da wohnen kleine, fleißige Menschen drin (mit erfüllten Leben), die den Drang haben, alles transparent zu machen, man kann nur subtile Änderungen vornehmen, beispielsweise der Eintrag über so etwas Banales wie "Lederhose", die kleinen Wikipediamenschen haben gar nicht mitbekommen, dass der Eintrag subtil geflutet wurde von sexuell konnotierten Fetischbildern.

Ich möchte jetzt nicht, dass der Eindruck entsteht, ich sei verbittert, misanthropisch, lebensenttäuscht und trage eine Lederhose, ganz im Gegenteil, auch wenn ich nicht sehr dran hänge, mochte ich dieses kleine beschissene Leben, diese wenigen fünfzig Jahre bisher, also wenn man, wie gesagt, die ersten 16 abzieht, eigentlich ganz gerne, lieber wäre ich natürlich eine Ameise, eine Wespe oder ein Pilz, erwiesenermaßen die drei gelungensten Lebensformen hier auf unserem dreckigen Erdklumpen, die Menschen sind es natürlich nicht, sie sind das Gegenteil, sie können nur nerven, aber sie sind ja auch immer Quell des Frohsinns, weil ihnen auch das Tölpelhafte innewohnt, ich nehme mich davon gar nicht aus. Tiere hingegen sind nie tölpelhaft, weil es ihnen an Reflexionsvermögen gebricht, aber will ich eine fünfzigjährige Wespe sein? Lieber ein Pilz, denn die scheinen ganz kregele, kommunikative Kollegen zu sein, die viel Zeit und Muße zu haben scheinen.

Jemand, der gerade ein Kind bekommen hatte, hat mir mal empfohlen, ich müsse nun auch endlich Verantwortung übernehmen und es ihm gleichtun, ich hab nur dreckig gelacht, warum sollte ich das, was ändert sich dadurch? Soll ich ihn bedauern oder bewundern, dass er ab jetzt 16 Jahre in einer Art Schraubzwinge steckt, die er Verantwortung nennt und von seiner Lebensstagnation ablenkt? Da ziehe ich die Verantwortung, die ich meinen Fingernägeln und Ohrenhaaren gegenüber habe, vor, wenn ich sie regelmäßig schneide, oder den Blattpflanzen, indem ich sie füttere und mit ihnen spreche und an ihnen nasche, sind ja auch Lebewesen, brauchen ja auch Zuspruch, und eine Blattpflanze kommt nicht in die Pubertät.

Fünfzig Jahre zu sein bedeutet, dass man eigentlich alles erlebt hat, abgehakt haben müsste, und nichts mehr erleben muss, außer den Tod, aber auf den ist ja Verlass, auf den kann man noch warten, und zwar entspannt. Und selbst der hat mir bereits seine Visitenkarte zugesteckt, dero zween, horrible Schwimmunfälle, eine Sekunde später, bzw. zweimal eine Sekunde, und ich wäre tot.

Kinder, der Tod

"Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm, ich hab ihn gesehen, und er war schön", wie der Hamburger Musiker Holger Hiller vor 30 Jahren sang, und er singt weiter: "Kinder, die Messer sind gar nicht so scharf", aber das will ich nicht hoffen, denn ich schenke mir zu meinem Geburtstag eine neue Hand, ich werde an diesem Tag im Krankenhaus liegen, und ein erfahrener Chirurg wird meine alte Hand amputieren und eine neue annähen. Ich hab das schon einmal gemacht, vor genau zehn Jahren, ich kann das empfehlen, ein Teil von mir ist also neu geboren, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach meiner Geburt. Und narkotisiert kann man schlecht Gratulationen empfangen, mal ganz davon abgesehen, dass ich niemanden kenne, der mir gratulieren könnte, Freundschaften hab ich erfolgreich beendet, der lieben Mutter sehr früh schon nahegebracht, dass sie an diesem Tag, wenn sie darauf Wert legt, sich selbst gratulieren kann. Bleibt also nur noch der blöde Optiker.

Zu Beginn seiner kleinen Karriere reüssierte Holger Hiller mit der Minioper Guten Morgen, Hose, es geht in ihr um die Lächerlichkeit unseres Lebenskonstrukts, um das Heischen um Anerkennung und das Ausblenden von Vergänglichkeit, und es gipfelt im Lob der Dinge, wenn man akzeptiert, dass eigentlich sie die Lebewesen sind und wir die Dinge, die die Gnade haben, von ihnen ausgehalten zu werden, von den Häusern, Wäschespinnen und Milchkännchen, lässt sich alles viel entspannter regeln, immer die Zeile aus der Oper auf den Lippen: "Die Zeit hat mir die Brille in den Koffer gelegt."

Es soll Leute geben, die lesen gerne Jahresrückblicke in Zeitungen oder sehen sie im Fernsehen oder weiden sich, wenn sich etwas jährt, wie der "Twintower-Salat" (Pierre Brice) in diesem Jahr, daran, ich nicht, was soll das bringen? Warum bereitet es vielen Menschen so viel Lust zurückzuschauen? Ist das die Angst davor, nach vorn zu schauen, oder nur ihre Langeweile in ihren erfüllten, verantwortungsvollen Leben?

Ich kenne Langeweile, ich liebe sie sogar und hege sie, aber würde doch niemals die Nachrichten von gestern sehen wollen oder ein Buch zweimal lesen (Bücher müssen nach der Lektüre weggeworfen werden), Langeweile ist ein okayes Haustier, und es ist ein weitverbreiteter Trugschluss zu glauben, man könne sein Leben verlängern, wenn man Langeweile bannt. "Das Leben ist ein zeitweiliger Sieg über die Ursachen, die zum Tod führen", das hat der Erfinder der Kleiediät gesagt. Und was führt zum Tod? Das Leben natürlich per se, aber auch die angestrengte Suche nach Mitteln und Methoden, um die Langeweile totzuschlagen, und Kleiekekse.

Mir geht es gut, danke der Nachfrage, nein, lasst Blumen, Geld und Geschenke stecken, ich schenke mir selbst eine neue Hand, und um noch mal auf die Liste am Anfang zurückzukommen, die der Melancholiker, die heuer ebenfalls 50 wurden und noch werden, auf der anderen Seite stehen aber auch ein paar Sieger, gewissermaßen als Gleichgewicht des Schreckens, dass die Schwermut nicht überhandnimmt, ein Jahrgang voller Heulsusen, das will ja auch keiner: Guido Westerwelle, Dr Alfred Dorfer, Ingo Lenßen, Susanne Riess-Passer, The Edge, James Gandolfini, Dietmar Bär, Lothar Matthäus, Dirk Bach, Pasi Rautiainen, Nadia Comaneci (die rumänische Stufenbarren-Elster) und Ilham Aliyev, der amtierende Präsident Aserbaidschans, er wird Heiligabend 50 und sieht aus wie Goofy, der Freund von Mickey Maus, und ich werde ihm mit meiner neuen Hand gratulieren, wenn ich zufällig in Baku sein sollte, dass er als Muslim wenigstens nicht das blöde Weihnachtsfest feiern muss.

Ungefähr in der Mitte

Auf einer Zugfahrt von Hallstatt nach Attnang-Puchheim fragte mich neulich ein betagter alter Herr mit Hut, ob ich Student sei und was ich denn studiere, ich murmelte irgendetwas von Schleusentechnik und Saprobiontik und ergänzte, um ihm einen etwas fasslicheren Informationshappen zuzuwerfen, dass ich am selben Tag Geburtstag habe wie Johannes Heesters, der 108 wird. Und da stehe ich ungefähr in der Mitte, zwischen ihm und dem Studenten. Und das ist doch ein ganz kommodes, warmes Plätzchen, zu dem ich mir selbst gratulieren möchte und von wo aus ich alle ehrlichen Menschen in einer gerechten Welt grüße. (Tex Rubinowitz, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 3./4. Dezember 2011)