Angst essen Singammer-Population auf: Vögel, die in Furcht leben, haben um 40 Prozent weniger Nachwuchs, der flügge wird.

Foto: Liana Zanette

Washington/Wien - Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben, weiß der Volksmund. Der mutmachende Spruch dürfte auch evolutionsbiologisch nicht so ganz falsch sein, wie nun ein Team von kanadischen Biologen bei aufwändigen Untersuchungen mit Singammern (Melospiza melodia) herausfand: Allein schon die Angst vor Feinden reduziert die Anzahl der Vögel erheblich, berichten die Forscher um Liana Zanette (University of Western Ontario).

Wenn Evolutionsbiologen und Ökologen die Populationsentwicklung einer bestimmten Tierart einschätzen sollen, dann spielen dabei das Vorhandensein von Futter und der Einfluss von Raubtieren traditionell die entscheidende Rolle: Je mehr Nahrung vorhanden ist, desto mehr Nachwuchs kann produziert werden. Andererseits wird die Population durch die verschiedenen Fressfeinde dezimiert, die auf diese Tierart Jagd machen.

Doch womöglich wurde der Einfluss der Räuber bis jetzt unterschätzt, argumentieren nun Liana Zanette und ihre Kollegen im US-Fachblatt Science (Bd. 334, S. 1398). Die Biologen haben für ihre Untersuchung frei lebende Singammer-Populationen vor allen ihren natürlichen Feinden - unter anderem Waschbären aber auch Rabenvögel - geschützt, indem sie das Revier der Vögel durch ein Netz und elektrische Zäune von der übrigen Umwelt abschnitten.

Den auf diese Weise in Sicherheit lebenden Tieren spielten die Biologen verschiedene Töne vor: Eine Gruppe von Singammern bekam ganz normale Alltagsgeräusche zu hören, die keine Gefahr suggerierten; eine andere Gruppe hingegen musste sich unter anderem die Laute von sich nähernden Feinden anhören. Das hatte zur unmittelbaren Folge, dass die Vögel abgelegene Nistplätze wählten und sich weniger oft auf Futtersuche begaben.

Die Folgen für den Nachwuchs waren dramatisch: Bei jenen Vögeln, die in permanenter, aber völlig unbegründeter Furcht gehalten wurden, entwickelte sich der Nachwuchs weitaus schlechter. Im Vergleich zur anderen Gruppe blieben 40 Prozent der Jungtiere auf der Strecke und starben, ehe sie flügge wurden.

Zanette und ihre Kollegen gehen aufgrund ihrer Ergebnisse davon aus, dass bereits die bloße Anwesenheit von Raubtieren dramatische Auswirkungen auf andere Arten haben und sogar die Stabilität von Ökosystemen beeinflussen könne. Zudem würde ihre Studie auch neues Licht auf die Auswirkungen von eingewanderten Raubtieren werfen.

Noch weiter geht der Biologe Thomas Martin in seinem begleitenden Kommentar in Science (S. 1353): Er schlägt vor, dass der "Preis der Angst" in neuen Modellen der Evolutionsbiologie und Populationsdynamik Aufnahme finden sollte. (DER STANDARD, Printausgabe, 09.12.2011)