Sieht aus wie eine Tasse, aber ist es eine? "Diese Tasse ist eine Tasse, keine Tasse." Hinter Dorothee Golz hängt eine ihrer Zeichnungen: "Nie treffen wir uns - auch nicht in der Unendlichkeit."

Foto: Klaus Fritsch
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Porträt einer künstlerischen Grenzgängerin.

Da ist "dieses Ding". Immer wieder taucht es in Dorothee Golz' Arbeiten auf. "Dieses Etwas", das irritiert, das unbenennbar ist. Aber wirkmächtig. Es setzt etwas in Bewegung im Betrachter. Auf "dieses Ding" kommt es Golz in ihren Werken an. "Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, versuche ich in meine Arbeit hineinzubringen."

Sie lässt mit ihren Arbeiten eine Ahnung aufkommen, dass das, was man sieht und für gewiss hält, vielleicht doch nicht die ganze Wahrheit ist oder die einzige. Zu viel Selbstgewissheit ist ihr verdächtig. Dann verschiebt sie vermeintlich Sicheres ein klitzekleines Stück, und schon ist das Sichere unsicher. "Eine Sache nehmen, ein bisschen anders tunen – und man hat Zugang zur Psyche der Menschen", beschreibt Dorothee Golz ihre Methode.

Die hat sie in vielen ihrer Arbeiten praktiziert. Zum ersten Mal, und da gleich mit großem Tusch auf der großen Bühne der Kunstszene aufgetaucht ist "dieses Ding" 1997. Bei der Documenta X sorgte die Hohlwelt (Seite 16) der jungen deutschen Künstlerin, die 1989 nach Wien gekommen war, für Aufsehen. dX-Kuratorin Catherine David hatte die große durchsichtige Kugel, in der ein an die blasenförmige Wand angeschmiegter Drehstuhl, eine ebenso gebogene Stehlampe und eine amorphe Form enthalten war, in der Wiener Secession gesehen – und Golz nach Kassel eingeladen.

Zu diesem Zeitpunkt – die Ausstellung in der Secession – wusste Golz für sich: "Ich habe mein Thema und die richtige Sprache dafür gefunden." Seither seziert sie Wahrnehmung und Wahrheit: "Wie nimmt man etwas wahr? Wann wird etwas wahr? Welche Wahrheit? Die innen? Die von außen? Was wir uns innen vorstellen?" – Dies ist ihr "Grundthema". Die Wahrheit ist in dem Wechselspiel der Projektionen und Reflexionen begründet, die ständig von innen nach außen und umgekehrt diffundieren, meint sie.

Was ist die "Wahrheit" der Hohlwelt? Lampe, Stuhl und "dieses Ding". Zwei vertraute Elemente, eines, das Fragen aufwirft. "Dieses Ding ist das, was uns rätselhaft erscheinen lässt, das uns verrückte und auch schon mal unvernünftige Sachen machen lässt, das uns zum Psychiater treibt", sagt Golz. Es ist das, was uns einzigartig macht – und jeder Betrachter wird etwas anderes herauslesen.

"Ich möchte keine Sache bieten, wo man sagt: ,Schön, verstanden! Abgehakt!', sondern eher, wo man sagt: ,Hm, da ist irgendwas. Könnte es vielleicht das sein?' Der Geist möchte sich damit befassen", erklärt Golz ihre "Technik".

Der Geist, der Intellekt spielt in ihrer Arbeit eine zentrale Rolle. Sie will den Dingen auf den Grund gehen. Eigentlich wollte ja Golz, die 1960 in Mülheim an der Ruhr geboren wurde, Physik studieren. Da sie aber nicht sofort einen Studienplatz bekam, schrieb sie sich vorübergehend an einer Kunstschule ein, bis sie ab 1981 ein grenzüberschreitendes Studentinnendasein zwischen Deutschland und Frankreich startete. An der Ecole Supérieur des Arts Décoratifs de Strasbourg studierte sie Kunst, an der Universität Freiburg Kunstgeschichte und Ethnologie. Die Kunst hatte sie da bereits "voll in den Bann gezogen", aber die Begeisterung für die Wissenschaft war immer geblieben. Bis heute. "Ich habe meine Kunst immer auch wissenschaftlich betrieben."

Sie arbeitet mit Chemikern, um Materialien für ihre Arbeit zu entwickeln; hat keine Scheu, sich mit neuen Computertechniken auseinanderzusetzen. Drei Computer in ihrem Wohnatelier / ihrer Atelierwohnung nahe der Alten Donau – die Grenzen sind fließend, Wohnung ist wahr, Atelier ist wahr; Kunstwerke wie der Chair to Share (Seite 1) werden durch neue Arrangements zu Wohngegenständen – zeugen davon.

Durch ihre Experimentierfreudigkeit seien oft "formale Lösungen entstanden, die es so vielleicht noch nicht gab". Die Digitalen Gemälde etwa – "ein Teil meiner Forschungsarbeit". Auch da die subtil eingebaute Irritation. Golz hat historische Porträts mit modernen Körperhaltungen verschmolzen und in heutige Umgebungen montiert und so, ohne Worte, eine Theorie der Geschlechterverhältnisse geliefert. Nach der fotografischen und digitalen Bearbeitung etwa von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring ist nicht mehr eine etwas verhuschte, gedankenverlorene Frau zu sehen, sondern eine junge Frau in Jeans und Ballerinas, die selbstbewusst in die Kamera schaut. Ein Gesicht, ein Blick, zwei nicht vergleichbare Möglichkeitsräume für ein Frauenleben. Während Dürers Selbstporträt, schon damals mit straightem Blick auf den Betrachter, von Golz in eine coole Lederjacke gesteckt, kaum mehr Irritationspotenzial hat. Der Langhaarige könnte ein Kerl von heute sein.

Experimentierfreudig heißt bei Golz auch kompromisslos: "Von einer Sache, die gut ankommt, würde ich nicht 20 Varianten machen, nur weil es gefällt." Es sich auf einem Erfolgsplateau gemütlich zu machen und dem Kunstmarkt zu geben, wonach er gerade giert, ist ihre Sache nicht.

"Ich bin sehr unorthodox", sagt sie auch. Das betrifft nicht nur ihre Werkzeuge, das kann auch Kartoffeldruck sein. Es zeigt sich auch an der Bandbreite ihrer Arbeit: Objekte, Installationen, Zeichnungen, Fotoarbeiten, Kunst im öffentlichen Raum (z. B. das Memorial für die Opfer der NS-Medizinverbrechen in Maria Gugging). Es wird immer an "jedem Strang weitergearbeitet", manchmal entstehen Querverbindungen, etwa, wenn sie das Skizzenhafte ihrer Zeichnungen plötzlich dreidimensional weiterdreht und einen ihrer Lebensentwürfe in den Raum projiziert. Hasengitter und etwas Stoff reichen, um ein Schlafzimmer als Versuchsanordnung für ein mögliches Leben zu skizzieren. Raum zum Scheitern inklusive, aber nie ausformuliert.

Zum Thema der Schwerpunktausgabe – Patchwork – sagt die Mutter zweier erwachsener Söhne, von deren Vater sie getrennt lebt: "Gebaute Familien müssen gar nicht unbedingt schlechter sein als die biologische." Auch da gibt es keine verordnete Wahrheit.

So wie über die Kunst. "Ich bin mehr an der Suche nach der Wahrheit interessiert als an Kunst", sagt die Künstlerin. Künstlerin? Bloß eine weitere gesellschaftliche Verabredung zur Wahrheitsproduktion! Darum hat Dorothee Golz "vor einiger Zeit beschlossen, dass ich mich nicht mehr Künstlerin nenne und nicht mehr als Künstlerin empfinde. Ich wollte mich aus diesem Kunstkontext rausnehmen. Ich habe nie beschlossen, Kunst zu machen, aber das, was ich mache, wird halt Kunst genannt und in Museen gezeigt."

Und jetzt im Standard. Nicht, weil es "halt Kunst" ist. Weil es Dorothee Golz ist. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD – Printausgabe, 17./18. Dezember 2011)