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Angela Merkel und Nicolas Sarkozy beim G8-Gipfel in Deauville im Mai 2011.

Foto: EPA/ERIC FEFERBERG / POOL

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Im Vorfeld eines G20-Gipfels im Oktober 2010 fand in Deauville auch der im Interview erwähnte Strandspaziergang statt. Schulz: "Es ist ja nicht so, dass die Entscheidungen in Europa in den Institutionen getroffen werden sondern am Strand."

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Martin Schulz will den Bürgern eine starke Stimme geben, für Transparenz sorgen und den mächtigen Chefs der Regierungen in der EU stärker entgegentreten.

Im ersten Teil des Interviews kritisiert Schulz Deutschland und Frankreich und das Demokratiedefinzit der EU.

Im zweiten Teil fordert der deutsche Sozialdemokrat von seinen Genossen die Frage nach der Richtigkeit und Beherrschbarkeit des kapitalistischen Systems erneut zu stellen.

Foto: Thomas Mayer

Ein deutsch-französisches Direktorium regiere durch, ignoriere andere Staaten und Institutionen, kritisiert Martin Schulz, künftiger Präsident des EU-Parlaments, im Gespräch mit Thomas Mayer.

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DER STANDARD: Wie erklären Sie einem Bürger, dass man so wichtige Euro-Reformen wie die Fiskalunion jetzt im sogenannten Verhandlungsformat „Euro plus plus" macht? Was ist das?

Schulz: Es haben sich 26 Staaten der EU darauf verständigt, Großbritannien zu isolieren. Und das machen sie, indem die 17 Eurostaaten und neun weitere EU-Staaten und das Europäische Parlament sich zusammen hocken, um Regeln zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin zu finden. Das ist etwas, was nötig ist, aber nicht vollständig.

DER STANDARD: Hintergrund der Frage ist, dass diese Konstellation im EU-Vertrag von Lissabon, mit dem man mehr Transparenz und Demokratie versprochen hat, so gar nicht vorgesehen ist. Demnach müsste es einen öffentlichen Konvent geben, volle Einbindung der Europaparlaments. Jetzt schaut es nach dem Gegenteil aus, nach schnell, schnell, oder nicht?

Schulz: Sie haben auch Recht. Aber man muss, wie immer in Europa, zweimal hinschauen um zu sehen was läuft, nach dem Grundsatz: Nichts ist so wie es scheint. Der Lissabon-Vertrag ist einer, der mehr Effizienz, mehr Demokratie, mehr Entscheidungsstärke bringt. Aber es wurde auch ein neues Organ geschaffen, das es vorher nicht gab, der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs. Das war vorher nur ein informeller Zirkel, jetzt hat er Organschaft bekommen, mit einem eigenen Präsidenten, Herrn Van Rompuy.

DER STANDARD: Er kann ganz konkrete Entscheidungen treffen, aber warum hinter verschlossenen Türen?

Schulz: So, genau das ist das Problem. Diese Herrschaften, die sich zur Regierung Europas erklären, ziehen alles an sich, verraten aber nicht, dass sie damit den Lissabon-Vertrag eigentlich verraten. Denn im Europäischen Rat herrscht eben nicht dass Mehrheitsprinzip, sondern das Einstimmigkeitsprinzip. Durch die Hintertür führen dieselben Leute, die ständig erklären, Europa müsse effizienter werden, die Ineffizienz per System, das Einstimmigkeitsprinzip, wieder ein. Schuld sind die Regierungschefs.

DER STANDARD: Es geht also Rückwärts?

Schulz: Na klar, natürlich ist das ein Rückschritt, den die ach so populären und ach so effizienten Nationalstaaten verschuldet haben. Das Dramatische, ja sogar das Skandalöse daran ist, dass einige – voran dieser komische Staatspräsident in Frankreich – nichts anderes zu tun haben, als den ganzen Tag zu erzählen, an allem seien die europäischen Institutionen schuld. Das ist schon ein Tollhaus. Zuerst tun sie alles, um die EU-Kommission zu entmachten, und dann wird gebrüllt: ‚Die Kommission tut ja nichts.‘ Dem ein Ende zu bereiten ist eines meiner Ziele. Die Tatsache, dass wir es geschafft haben, dass das Parlament bei einer Eurofrage mit am Tisch sitzt und ohne uns nichts mehr läuft, daran habe auch ich hart gearbeitet. Das wird mehr werden in Zukunft.

DER STANDARD: Aber ist eine Reform mit 26 Staaten nicht noch schwieriger als wenn sich nur die 17 Euro-Länder zusammengetan hätten?

Schulz: Sie haben recht, ja, es könnte alles viel einfacher sein. Aber was wir erleben ist ja noch viel dramatischer. Wir haben es in der Union im Prinzip mit einer Dreiteilung unter den Staaten zu tun. Es gibt ein deutsch-französisches Direktorium. Das setzt sich ja nicht einmal mehr mit den anderen Staaten zusammen. Es ist ja nicht so, dass die Entscheidungen in Europa in den Institutionen getroffen werden sondern am Strand.

DER STANDARD: Sie meinen in Deauville, wo Sarkozy und Merkel bei einem Spaziergang den Euro-Pakt schlossen.

Schulz: Ja, bei einem Strandspaziergang. Oder dann wird Herr Monti nach Straßburg einbestellt, wo Merkel und Sarkozy ihm sagen, was er zu tun hat. Wir reden vom Wiener Kongress, Format 21. Jahrhundert. Das Europäische Parlament muss hier viel massiver intervenieren.

DER STANDARD: Wie bringt man den Geist wieder in die Flasche zurück?

Schulz: Nicht man, da muss man präzise sein, Frau Merkel und Herr Sarkozy haben diesen Geist aus der Flasche gelassen. Frau Merkel hat behauptet, wir brauchen eine Vertragsreform. Alle anderen haben ihr dringend abgeraten, auch die österreichische Bundesregierung. Aber nein, sie wollte es unbedingt, mit der Begründung, man brauche das Vertrauen der Märkte. Was ist das Ergebnis? Man hat nicht das Vertrauen der Märkte, und auch keine Reform der Verträge, sondern eine völlig unklare rechtliche Situation.

DER STANDARD: Vor allem geht das Vertrauen der Bürger verloren.

Schulz: Mir geht das tierisch auf die Nerven, dass wir hier dauernd über das Vertrauen der Märkte reden. Merkel spricht zum Beispiel von einer marktkonformen Demokratie, die wir brauchen. Es ist umgekehrt, wir brauchen einen demokratiekontrollierten Markt. Über das erodierende Vertrauen der Bürger in die Institutionen zu reden, das wäre viel wichtiger. Ich gebe zu, wir müssen da noch viel kämpferischer werden.

DER STANDARD: Das Parlament will im Jänner eigene Reformvorschläge präsentieren, welche?

Schulz: Ich wäre schlecht beraten, wenn ich meinen Verhandlern über die Zeitung ausrichte, was sie zu verhandeln haben.

DER STANDARD: Sie werden allergrößter Wahrscheinlichkeit nach zum Parlamentspräsidenten gewählt werden im Jänner, was haben Sie vor?

Schulz: Ihre Fragen zielen auf einen absoluten Missstand ab: Wir reden nicht von der Ökonomie, sondern von der Strukturiertheit der Union. Die EU trifft Entscheidungen, die sie, mich, ihre Leserinnen und Leser, jeden von uns, bis in den Alltag begleiten, vielleicht schon stärker, als das der Nationalrat tut. Stärker als jeder Landtag. Aber die Bürger haben zu recht das Gefühl, da kapier ich nichts von, da kriege ich nichts mit, das geschieht hinter verschlossenen Türen, der Rat, die Kommission.

DER STANDARD: Das erklärt vielleicht, warum die EU-Skeptiker immer stärker werden.

Schulz: Das Europaparlament muss der Ort sein, an dem die Bürgerinnen und Bürger den Richtungskampf um rechts oder links, um Nationalstaat oder Union, im Wettbewerb von Kontinenten miteinander, den wir gerade erleben, da müssen die Bürger eine Plattform haben, wo sie erkennen können, dass über diese Themen kontrovers aber offen geredet wird, wo transparent gestritten und entschieden wird. Dazu braucht man an der Spitze einen, der sich verständlich machen kann. Das traue ich mir zu.

DER STANDARD: Sie waren als Fraktionschef immer ein kämpferischer Linker, werden Sie da durch das Amt des Präsidenten nicht gebremst werden, durch eine verbindlichere Rolle, die Sie spielen müssen?

Schulz: Das gilt nach innen im Parlament, aber nicht gegenüber den anderen Institutionen, die nicht transparent sind. Das ist ja das, worüber wir reden. Wir reden hier ja nicht um die Konfrontation der Sozialisten mit den Konservativen, sondern vom Parlament in Bezug auf die Exekutivorgane. Die Menschen empfinden zu Recht ein Demokratiedefizit in Europa.

DER STANDARD: Wie muss man sich konkret vorstellen, wie sie das anlegen, etwa beim Europäischen Rat, wenn er in Brüssel tagt?

Schulz: Das Europaparlament handelt auf gleicher Augenhöhe wie Regierungschefs und Kommission, nicht als wenig geliebter Cousin am Rande. So werde ich auftreten.

DER STANDARD: Wollen sie ständig anwesend sein? Bis jetzt das der Parlamentspräsident nur kurz am Anfang der Sitzungen eine Erklärung abgeben.

Schulz: Ich werde die Lust der Regierungschefs wecken, länger mit mir zu diskutieren.

DER STANDARD: Sie werden einer der einflussreichsten Sozialdemokraten in Europa sein, die ja in einer echten Formkrise stecken, nur drei von 27 Regierungschefs stellen. Warum ist das so?

Schulz: Die europäische Sozialdemokratie leidet stärker als jede andere Bewegung unter der Krise Europas, weil die Werte einer transnationalen Kooperation im Grunde die sozialdemokratischen Werte sind. Das gilt für die Überwindung der Grenzen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, ökologisch, ökonomisch, währungspolitisch, was Wanderungsbewegungen betrifft. Das Zweite ist, es gab in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren Kräfte bei den Sozialdemokraten, die die Systemfrage nach der Richtigkeit und Beherrschbarkeit des kapitalistischen Systems nicht mehr gestellt haben. Stattdessen wurde eine Debatte über den dritten Weg geführt. Man stellte nicht die Frage, ob wir eine Alternative zum unbegrenzten Kapitalismus sind, sondern es ging nur noch um die Verteilung der Effekte dieses Wirtschaftssystems. Heute sind wir in einer Situation, wo das System anfängt sich selber aufzufressen. Aber wir gelten nicht als die, die eine Alternative, ein anderes Modell hätten. Das ist ein gutes Stück unserer Probleme. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Die Sozialdemokratie ist eine kapitalismuskritische, die soziale Marktwirtschaft verankernde Bewegung. Das müssen wir in unserer Programmatik wieder stärker profilieren, auf nationaler Ebene wie auch in Europa.

DER STANDARD: Nun werden Wahlen ja nicht in Europa, sondern auf nationaler Ebene entschieden, in erster Linie. Hat die SP den Fehler gemacht, innenpolitische Probleme nicht viel radikaler mit europäischen Fragestellungen zu verknüpfen? Die Konservativen waren immer wesentlich europäischer ausgerichtet. Haben die Sozialdemokraten das unterschätzt?

Schulz: Die Sozialdemokratie muss viel stärker als andere erkennen das, was über eineinhalb Jahrhunderte unser Erfolg war, nämlich die Waffengleichheit von Kapital und Arbeit zu erstreiten. Auf nationalökonomischer Ebene, da haben wir das geschafft. Aber das Kapital hat sich inzwischen internationalisiert, das nennen wir Globalisierung. Unsere sozialen Schutzstandards sind aber alle im nationalen Rahmen definiert. Deshalb muss die Sozialdemokratie begreifen, dass für keine politische Bewegung eines Europäisierung und Internationalisierung wichtiger ist als für uns. Die Konservativen und Liberalen haben überhaupt kein Problem, für sie sind die deregulierten Märkte genau das was sie wünschen. Die Sozialdemokraten müssen erkennen, dass sie die Regulierung nur im internationalen Rahmen erkämpfen können. Auf Leute wie mich kommt daher eine große Belastung zu. Wir müssen begreifen: Die Entscheidungsschlacht findet nicht mehr bei der Tarifverhandlung in nationalem Rahmen statt, dort auch, aber sie findet vor allem in der Gesetzgebung in Europa statt.

DER STANDARD: In Österreich argumentieren Gewerkschafter oft umgekehrt, sagen, dass erst Europa den Menschen die Krise gebracht hat.

Schulz: Damit haben sie recht. Das Wettbewerbseuropa führt zu nationalen Krisen. Aber sie müssen einen Schritt weiterdenken und sagen. Das bekommen wir nicht mehr auf nationaler Ebene gebremst, wir müssen ein sozialstaatliches Europa schaffen. Daher mein Appell an die Gewerkschaften, bei den nächsten Europawahlen 2014 haben wir die Chance, diese Fehler zu korrigieren, bei einer Wahl, die nämlich viele konservative und liberale Parteien die Europawahlen viel ernster nehmen als wir.

DER STANDARD: Wo sehen sie eine Hoffnung durch eine Persönlichkeit der Sozialdemokratie? Soll das Francois Hollande sein in Frankreich?

Schulz: Wenn wir in Frankreich die Wahl gewinnen, ich bin sicher, das wir das gewinnen, dann wird das der Auftakt sein zu einem Wechsel. Die nächste Wahl wird die Linke in Italien an die Macht bringen, und dann wird Deutschland folgen. Es ist völlig klar, dann geht Europa sicher in eine andere Richtung. Wir müssen aber auch bei den Europawahlen mit starken Kandidaten antreten, angesichts der Machtfülle der Kommission, die ja Initiativrecht hat. In Kombination mit einer parlamentarischen Mehrheit. kann man Europa schon sozialer gestalten.

DER STANDARD: Zurück zu Großbritannien und der drohenden Isolierung in der Union durch Frankreich und Deutschland. Ist das gescheit langfristig, ist das nicht eine sehr riskante Operation bei einem Land, das als Atommacht sicherheitspolitisch so wichtig ist wie Großbritannien, ob in der Uno oder bei den G20?

Schulz: Ich glaube David Cameron hat beim letzten Rat gezockt, er hat gespielt nach dem Motto ‚Das wagen die nie." Er hat geglaubt, um den Preis der Vertragsänderung, der er zustimmen muss, kriegt er keine weitere Regulierung der Finanzmärkte. Da gaben 26 Staaten gesagt, nein, da machen wir was anderes, diese Erpressung funktioniert nicht. Zu recht. Und was hat Cameron jetzt? Die Finanzregulierungen werden kommen, weil sie nach Gemeinschaftsrecht erlassen werden, und die gelten dann auch für Großbritannien. Das bedeutet, er hat das nicht verhindert, aber er hat sich den Anti-Europäern in seiner Partei endgültig ausgeliefert. Denen muss er liefern, wenn er nicht als Premierminister stürzen will. Er sitzt in einer dreifachen Falle. Bei den Europäern sitzt er am Katzentisch, seine Koalition in London wackelt, weil die Liberaldemokraten Proeuropäer sind, und in seiner eigenen Partei ist die radikale Fraktion richtig gestärkt. Deshalb glaube ich, dass das eigentlich keine Frage ist, die sich an die Europäer richtet, sondern an die Briten, wie sie mit Europa umgehen.

DER STANDARD: Demnächst stehen EU-Budgetverhandlungen an, die werden dadurch wohl nicht leichter, oder?

Schulz: Überhaupt nicht. Der europäische Haushalt wird mit Mehrheit entschieden, im Rat, nicht mit Einstimmigkeit.

DER STANDARD: Zu Ihrer Nachfolge in der Fraktion: Es haben sich chancenreich beworben Hannes Swoboda aus Österreich und die Französin Catherine Trautmann. Was raten Sie ihrem Nachfolger?

Schulz: Meine Linie fortzuführen. Sich selbst in diesem Haus als Regierungskraft zu verstehen. Die Europäischen Sozialdemokraten haben im Moment Schwierigkeiten im Rat, mit nur drei von 27 Regierungschefs. Wir sind nicht mehrheitsfähig in der EU-Kommission. Das einzige Ort, wo gegen uns nicht gehandelt werden kann, ist das Europäische Parlament. Deshalb habe ich hier meine Linie nie als die einer Oppositionspartei verstanden, obwohl wir hier nur die zweite Kraft sind, sondern als eine, ohne die hier nicht entschieden werden kann. Hier ist der Ort, wo wir, etwa bei der Dienstleistungsrichtlinie, in der Gesetzgebung oft verhindert haben, dass dieses Wettbewerbseuropa alles niederwalzt. Deshalb meine Empfehlung so weiterzumachen.

DER STANDARD: Wer hat die größeren Chancen, Swoboda oder Trautmann?

Schulz: Der Hannes wird gewinnen. (Thomas Mayer, DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2011)