Nellie Bly, "Zehn Tage im Irrenhaus". Deutsch von Martin Wagner. € 19,00 / 192 Seiten. Aviva, Berlin 2011

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Eine 23-jährige Journalistin möchte nicht mehr über die typischen Frauenthemen wie Gärtnerei, Mode oder Kunst schreiben, sondern ihr Engagement für Arme und Entrechtete einsetzen.

Im Jahr 1887 geht Nellie Bly (1864-1922) aus der amerikanischen Provinz nach New York und bietet der New York World, einer von Joseph Pulitzer gegründeten Tageszeitung, an, mit einem Ozeandampfer von Europa nach Amerika in der dritten Klasse zu reisen, um über das Schicksal mittelloser Einwanderer zu berichten. Der Chefredakteur lehnt ab.

Die risikofreudige junge Frau soll stattdessen undercover in der psychiatrischen Anstalt auf Blackwell's Island, heute Roosevelt Island (zwischen Manhattan und Queens gelegen), ermitteln. Aus diesem Auftrag ging eine folgenschwere Reportage hervor, die wenig später als Buch mit dem Titel Ten Days in a Mad-House erschien. Jetzt, knapp 125 Jahre später, liegt der Erfahrungsbericht Zehn Tage im Irrenhaus erstmals in deutscher Übersetzung vor.

"Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich", sagt Nellie Bly, die eigentlich Elizabeth Jane Cochrane heißt. Sie schildert ihre Vorbereitungen in chronologischer Reihenfolge und täuscht ohne weiteres sämtlichen Ärzten und Richtern ihre scheinbare Geisteskrankheit vor. Unter dem Pseudonym Nellie Brown gilt sie bald als hoffnungsloser Fall und wird ins Irrenhaus eingeliefert.

Dieses ähnelt eher einem Arbeitslager für Strafgefangene als einer Heilanstalt. Hunger und Kälte, gehässige Provokationen und folterähnliche Behandlungsmethoden setzen den etwa 1600 Patienten zu. Der Umstand, dass es von vornherein keine Möglichkeit gibt, die geistige Gesundheit unter Beweis zu stellen, hat nach der Veröffentlichung große Zweifel an der Urteilskraft und Kompetenz von Ärzten im ganzen Land ausgelöst. An einer Stelle vergleicht die getarnte Schreiberin die Insel mit einer Mausefalle: "Es ist leicht hineinzukommen, aber unmöglich herauszukommen."

Martin Wagner, der in Wien studierte und Doktorand in Yale ist, hat den tollen Fund übersetzt und mit Anmerkungen und einem klugen Nachwort versehen, in dem er die Reportage als "Skandalon der Journalismus- und Psychiatriegeschichte" sieht. Wir erfahren aus dem ungewöhnlichen Leben der umtriebigen Frau, die eine Weltreise unternahm, eine Stahlfabrik leitete und während des Ersten Weltkriegs aus Österreich berichtete.

Wir lesen über die Entwicklung der modernen Psychiatrie und über die ökonomischen und geschlechterpolitischen Bedingungen der New Yorker Zeitungsredaktionen am Ende des 19. Jahrhunderts.

Hierbei tritt die Bedeutung von Blys lebensrealer Recherche als medienhistorisches Dokument zutage, das als Eckpfeiler in der Entwicklung des investigativen Journalismus in den USA gesehen werden kann, der etwa hundert Jahre zuvor mit der Washington-Affäre seinen Anfang nahm. Die Formierung des Phänomens der "Girl Stunt Reporter", Vorläufer der so genannten "Muckrackers", ebnete einer Reihe junger Journalistinnen den Weg in die männerdominierte Zeitungswelt.

Sensation vor sozialer Leistung: "Stunt"-Reporterin Bly fragt kaum nach den Ursachen der Probleme, während sie Einzelschicksale beschreibt. Die Wirkung der Story, ohne übertriebenen Betroffenheitsgestus, in schlichter Sprache erzählt, war groß und führte zu besserer Verpflegung und Finanzierung. (Sebastian Gilli / DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.1.2012)