Manfred Srb: "Beim 'barrierefreien Bauen' geht es um die Ausgestaltung der gesamten baulichen Umwelt, also auch um sämtliche Gebäude oder Baulichkeiten, die kommerziell genutzt werden."

Foto: BIZEPS

Manfred Srb, Rollstuhlfahrer seit früher Kindheit, war früher Nationalratsabgeordneter für die Grünen. Heute ist er ehrenamtlicher Mitarbeiter des Vereins "Bizeps - Zentrum für Selbstbestimmtes Leben", der sich insbesondere für die Rechte behinderter Menschen einsetzt. Was das barrierefreie Bauen betrifft, ist er grosso modo auf die heimischen Behörden gar nicht gut zu sprechen: In Wien kam es zuletzt vor, dass ein Geschäftslokal vor dem Umbau barrierefrei zugänglich war, nach dem Umbau aber nicht mehr, klagt er im Gespräch mit derStandard.at. 

Auch wenn man sich "im konkreten Fall ansehen" müsse, ob denn nun wirklich jeder Zugang zu einem Wohnhaus barrierefrei sein muss: Barrierefreiheit stelle ein Menschenrecht dar, und es gehe dabei auch nicht nur um den Wohnbau, antwortete er per E-Mail auf Fragen von Martin Putschögl.

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derStandard.at: Was halten Sie davon, dass es mehr und mehr Rufe gibt, die Wohnbauten in Österreich wieder "einfacher" bzw. billiger zu bauen, konkret etwa durch die Überlegung, nicht mehr alle Zugänge zu einem (gefördert errichteten) Wohnhaus barrierefrei zu machen?

Manfred Srb: Ich habe den Eindruck, dass diese "Rufer" schleunigst in den Nachhilfeunterricht geschickt werden sollten. Ich halte von diesen "Vorschlägen" rein gar nichts, weil sie - bewusst oder aus Unkenntnis der Sachlage - nicht auf die Realität eingehen. Wenn "einfacher" oder "billiger" heißen soll, dass nicht mehr barrierefrei gebaut werden soll, dann steht das im Widerspruch zu den (Landes-)Bauordnungen, zum Benachteiligungsverbot in Artikel 7 des Bundesverfassungsgesetzes sowie des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes. Letzteres verlangt barrierefreie Neubauten und koppelt auch Förderungen an die Barrierefreiheit. Darüber hinaus verlangt auch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Österreich geltendes Recht darstellt, die Barrierefreiheit.
Zudem ist es ja ein leider sehr weit verbreitetes Vorurteil, dass barrierefreies Bauen sehr teuer ist. Diese Ansicht wird komplett widerlegt durch eine vor einigen Jahren publizierte Studie der ETH Zürich, der zufolge sich die Kosten der Barrierefreiheit bei Neubauten nur in der Höhe jener, die für die Reinigung eines Gebäudes aufgewendet werden müssen, befinden.
Aber ob jetzt wirklich jeder Zugang zu einem Wohnhaus unbedingt barrierefrei sein muss, das müsste man sich im konkreten Fall ansehen. Auf jeden Fall kurzsichtig und an den realen Tatsachen vorbeigehend sind derartige Rufe vor allem auch deswegen, weil sie die Tatsache völlig ausblenden, dass schon allein wegen der rasanten Zunahme der älteren Menschen in unserer Gesellschaft barrierefrei gebaut werden muss.

derStandard.at: Haben Sie die Befürchtung, dass durch den herrschenden Sparzwang Ihre Anliegen vernachlässigt werden (könnten)?

Srb: Natürlich befürchte ich, dass aus Einsparungsgründen diese Personengruppen - Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, Mütter/Väter mit Kinderwägen etc. - unter die Räder kommen könnten. Das haben wir ja bereits beim letzten großen Sparpaket vom Oktober 2010 gesehen, wo auf dem Rücken von behinderten/pflegebedürftigen Menschen mehr als eine halbe Milliarde Euro eingespart worden sind.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Barrierefreiheit ein Menschenrecht darstellt und keineswegs ein Entgegenkommen oder gar ein "Gnadenakt" ist.

derStandard.at: Wird beim "barrierefreien Bauen" zu oft nur an Menschen im Rollstuhl und zu wenig an Menschen mit beispielsweise Sehbehinderung gedacht?

Srb: Infolge des allgemeinen Desinteresses bzw. der Uninformiertheit wird beim barrierefreien Bauen vor allem an Menschen im Rollstuhl bzw. an Menschen mit einer Gehbehinderung gedacht. Das ist unrichtig und ungerecht gegenüber den anderen betroffenen Gruppen. So kommt es dann, dass für die berechtigten Anliegen z. B. von Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung noch weniger oder gleich gar nichts gemacht wird. Das wird zu Recht auch von Vertretern der anderen betroffenen Gruppen als ungerecht angesehen.
In diesem Zusammenhang muss aber auch ausdrücklich betont werden, dass es beim sogenannten barrierefreien Bauen keineswegs nur oder auch nicht vor allem um den Wohnbau geht. Beim "barrierefreien Bauen" geht es vielmehr um die Ausgestaltung der gesamten baulichen Umwelt, also auch um sämtliche Gebäude oder Baulichkeiten, die kommerziell genutzt werden, um Parkanlagen, Baulichkeiten im Tourismusbereich, um Sportanlagen, um den Straßenbau usw.
Sehr im Argen liegt es im Bereich von Geschäftslokalen oder in der Gastronomie, wie sich z. B. in Wien recht deutlich zeigt. Hier wird von der zuständigen Baupolizei bei Umbauten nicht nach der Barrierefreiheit gefragt, und wenn Verstöße dagegen dann offenkundig sind, bleibt ebendiese Behörde entgegen dem gesetzlichen Auftrag untätig. 

derStandard.at: Können Sie das konkretisieren?

Srb: Ja, ich kann das an einem ganz konkreten Beispiel aus Wien aufzeigen: Ein Geschäftslokal im 7. Bezirk, in dem sich vorher eine Konditorei befand, war barrierefrei erreichbar. Nach dem Umbau ist das Lokal nun nicht mehr barrierefrei erreichbar, obwohl es dies sein müsste. Wie ist das möglich? Nun, die Behörde hat beim Einreichen der Baupläne nicht explizit nach der Barrierefreiheit gefragt (ob sie das muss oder nicht, ist unklar), der Planeinreicher hat mit seiner Unterschrift bestätigen müssen, dass der Umbau nach den Grundsätzen des barrierefreien Planens und Bauens durchgeführt wird und das Gleiche noch einmal bei der Fertigstellungsanzeige bestätigen müssen. Dieser Sachverhalt wurde der Baupolizei von mir mitgeteilt, und diese erteilte dem Lokal trotz des eindeutigen Gesetzesbruchs die Benützungsbewilligung bzw. unternimmt nichts, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.
Bei der Wiener Bauordnung war der Gesetzgeber nämlich nicht bereit, die Barrierefreiheit für alle Umbauarbeiten bzw. Neugestaltungen von bestehenden Geschäftslokalen vorzuschreiben. Das führt dazu, dass in der in internationalen Rankings oft in Spitzenpositionen vertretenen "Weltstadt Wien" ständig neue Geschäftslokale eröffnet und vorher zumeist umgebaut werden, die nicht barrierefrei ausgestaltet worden sind.

derStandard.at: Was sind dabei die größten Hindernisse?

Srb: Konkret geht es in vielen Fällen einfach nur darum, dass ein oder zwei Stufen im Eingangsbereich eliminiert werden müssen, was vielfach ohne größeren Aufwand gemacht werden könnte. Auf diese Art und Weise verliert Wien immer mehr den Anschluss an den internationalen Standard, und wir finden hier eine Situation vor, in der nach wie vor weit über 80 Prozent aller Geschäftslokale nicht barrierefrei sind. In Wien gibt es ganze Straßenzüge, in denen kaum ein barrierefreies Lokal zu finden ist. Im Gastronomiebereich ist es ähnlich schlimm: In einer von mir vor ca. zwei Jahren durchgeführten Erhebung wurden im Bereich des "trendigen" Brunnenmarkts fast alle neu eröffneten Gastronomiebetriebe nicht barrierefrei ausgestaltet.

derStandard.at: Wo ist man beim "barrierefreien Bauen" weiter als in Österreich?

Srb: Generell ist man in den skandinavischen Ländern und im angelsächsischen Raum weiter als in Österreich, aber auch Deutschland schneidet besser ab. In Übersee sind vor allem die USA, Kanada und Australien weiter als Österreich, alles Länder, in denen es bereits seit Jahren eine gute und daher auch eine sehr wirkungsvolle Antidiskriminierungs- bzw. Gleichstellungsgesetzgebung gibt.
Entgegen den intensiven und jahrelangen Bemühungen der österreichischen Behindertenbewegung konnte in Österreich nur ein Gleichstellungsgesetz zuwege gebracht werden, das keine wirklichen Sanktionen bei nicht barrierefreiem Bauen vorsieht und von den Betroffenen daher zu Recht als ein "zahnloses" Gesetz bezeichnet wird.

derStandard.at: Wie beurteilen Sie generell die derzeit geltenden Richtlinien punkto barrierefreies Bauen, was fordern Sie?

Srb: Die derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen sind bei Weitem nicht ausreichend! Notwendig wäre es, barrierefreies Bauen bei sämtlichen Neubauten, Umbauten und Zubauten vorzuschreiben, wobei die Definition von "Umbauten" (siehe Beispiel Wien) geändert werden muss. Weiters müssten geeignete Kontrollmechanismen eingebaut werden. Die Baubehörden müssen österreichweit verpflichtet werden, bei der Einreichung der Pläne immer nach der Barrierefreiheit zu fragen. Bei Nichtbefolgung darf keine Bewilligung erteilt werden. (derStandard.at, 7.2.2012)