"Es ist eine Fehlannahme der Politik, dass Menschen primär nach ihrem Eigennutzen wählen", meint Elisabeth Wehling.

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Der Mann ist Autorität, man sorgt für den eigenen inneren Kreis - als Metapher für die Nation: FPÖ-Kommunikation auf der Basis von Werten.

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Seit Jahren studiert Elisabeth Wehling die Wirkung politischer Sprache. Die Sprachwissenschafterin weiß, wie politische Akteure und Akteurinnen ihre Botschaften am besten formulieren sollten – und sie weiß auch, dass der rechte Flügel sich hier deutlich besser schlägt als der linke. Warum das so ist, darüber hat sie mit derStandard.at gesprochen.

derStandard.at: Die konservativen und rechten Parteien dominieren Europas Regierungen. Sind die Konservativen erfolgreicher in der Kommunikation als die Sozialdemokratie?

Elisabeth Wehling: Unbedingt. Das hat mehrere Gründe. Nicht zuletzt einen historischen: In den 70er Jahren gab es ja ein weltweites Aufblühen progressiver Werte. Das haben die Konservativen in den USA erkannt, und sie haben sich organisiert. Die Konservativen – ich verwende jetzt einfach mal dieses grobe Label, wie es in den USA für politisch rechte Gruppen genutzt wird – haben Thinktanks gegründet und aus allen Unis Kräfte geholt, mit ihnen zusammengearbeitet und sie wieder zurück an die Unis gesetzt. Damit haben sie die Gesellschaft durchdrungen und ihre Wertevorstellungen kommuniziert. Das ging von den USA aus, aber vieles davon ist in Europa übernommen worden.

derStandard.at: Gibt es auch weltanschauliche Gründe, warum Konservative sich besser Gehör verschaffen?

Wehling: Die Konservativen haben den großen Vorteil, dass der Erhalt des eigenen Wertesystems und die Abgrenzung gegenüber anderen Gedankenwelten selbst ein ganz zentraler Wert ist – "wir Weißen" oder "wir Amerikaner". Darauf zu achten, dass dieses System über anderen steht, ist für sie wichtig. Für Konservative ist es ein moralisches Anliegen, ihre Werte zu verbreiten und andere Werte im Zweifelsfalle auch abzuwerten. Bei progressiven Gruppen liegt das oft anders: Sie treten für Toleranz und Respekt ein, andere Meinungen zuzulassen ist ihnen wichtig. Darum sagen viele Progressive vom Bauchgefühl her: "Wir können nicht einfach hergehen und sagen, das ist richtig und dies ist falsch – das wäre Dogmatismus."

derStandard.at: Aber wo liegt eigentlich die Abgrenzung zwischen Dogmatismus und vehementem Einsatz für die eigene Position?

Wehling: Etwas, das aus eigener Sicht moralisch falsch ist, auch so zu benennen ist kein Dogmatismus. Wenn man meint, es sei falsch, wenn sich Industrien an unserer Luft und an unserem Boden vergreifen, ohne dass wir uns dagegen angemessen schützen können, dann muss man – auch sprachlich – klar dazu stehen. Denn es ist aus eigener Sicht ganz offensichtlich moralisch falsch. Das ist aber kein Wertedogmatismus.

derStandard.at: Konservative werfen aber gerade der Linken moralisierendes Verhalten vor, etwa wenn es um sensiblen Sprachgebrauch geht. Da heißt es schnell "die Moralapostel der Political Correctness".

Wehling: Das ist ein verbreitetes Muster: "Der Gutmensch" und ähnliche Begriffe dienen dazu, Menschen gedanklich in eine Schublade zu stecken. Jeder Wert wird ja in seiner Übersteigerung zu einem Unwert. Zum Beispiel wird jemand, der sparsam ist und es übertreibt, geizig. Jemand, der gerne ungebunden ist, wird in der übersteigerten Form gesellschaftsunfähig. Die Konservativen werten ihre Gegner ab, indem sie Folgendes machen: Sie übersteigern progressive Werte gedanklich ins Extrem. Und dadurch werden diese Werte zu Unwerten, die jedem Menschen auch sofort ein Begriff sind.

derStandard.at: Haben es die Parteien des rechten Flügels auch einfach leichter als die des linken?

Wehling: Es kommt öfters vor, dass alle Fakten aufseiten der Progressiven liegen. Beispiel Finanzkrise: Einen besseren Beweis dafür, dass eine zum Teil ungeregelte Marktwirtschaft gegen die Wand fährt, hätte es nicht geben können. Das sind so viele Fakten, die für progressive Politik sprechen – aber die Progressiven kommunizieren das nicht. Ein anderes Beispiel ist der Sozialstaat. Man organisiert sich, damit jeder ein Grundmaß an Schutz bekommt und Zugang hat zu Bildung, Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und so weiter. Diese Idee des Miteinander, die einen großen Teil unserer gemeinschaftlich geschaffenen Strukturen trägt, wird oft nicht kommuniziert.

derStandard.at: SozialdemokratInnen und Grüne sollten also mehr über soziale Sicherheit reden?

Wehling: Ja, zum Beispiel. Man muss den Menschen bewusst machen, was sie schon alles haben – gemeinschaftlich organisierten Schutz vor Armut, zu einem bestimmten Maß vor Umweltverbrechen, vor Übergriffen jeglicher Art.

derStandard.at: Vielleicht tut sich die Sozialdemokratie schwer, sich auf diese Werte zu berufen, weil sie als Regierungspartei selbst eigene Errungenschaften beschnitten hat? Stichwort Selbstbehalte im Gesundheitssystem, die Einschränkung der Familienbeihilfe.

Wehling: Wenn man im politischen Handeln von seinen Grundwerten abweicht, dann ist das ein Problem. Das sollte man vermeiden.

derStandard.at: Manche meinen, dass ganz generell weniger über Werte diskutiert wird als früher.

Wehling: Wir handeln im Alltag immer nach Werten. Wir bewerten ja ständig Situationen, Menschen, Verhaltensweisen. Werte sind immer noch da – was fehlt, ist die Brücke von den Alltagswerten zu den Werten in der Politik. Menschen wählen entsprechend dem, was ihnen in der politischen Debatte als Identitätsgrundlage angeboten wird. Es ist eine Fehlannahme der Politik, dass Menschen primär nach ihren Interessen wählen. Das stimmt nicht – Menschen wählen nicht nur für den Eigennutzen. Wäre das der Fall, dann würden nicht so viele sozial schlecht gestellte Menschen konservativ wählen, denn gerade diese Gruppen hätten ein Interesse an gemeinschaftlichen Strukturen. Menschen wählen gemäß ihren Werten. Vielen Menschen nutzen im Alltag zweierlei gedankliche Wertewelten, sie denken hier progressiv und da konservativ. Und je nachdem, welches Muster über die politische Kommunikation besser angesprochen wird, werden sie sich für diese oder jene Partei entscheiden.

derStandard.at: Sie sagen, die Parteien sprechen zu viel über Fakten und zu wenig über Werte. In österreichischen Wahlkämpfen haben aber auch Fakten wenig Platz – Worthülsen wie "Gerechtigkeit" dominieren.

Wehling: Fakten dürfen nicht fehlen – denn um sie geht es ja. Aber die Fakten sind ja für alle Parteien die gleichen – die Anzahl von Arbeitslosen, die Verschuldung und so weiter. Die Frage ist, wie man diese Fakten aus seiner Weltsicht heraus interpretiert. Und genau das fehlt uns oft, die Einordnung in ein moralisches Weltbild.

derStandard.at: Geht eine Selbstdefinition als "Partei der Mitte" nicht automatisch mit einer Erosion der Werte einher? Ich will schließlich niemanden ausschließen – und genau das riskiere ich mit einer klaren Positionierung.

Wehling: In dem Moment, in dem Sie sagen, Sie sind für alle Menschen da, stehen Sie für nichts. Menschen wählen die Gruppierung, die sie mit ihrer eigenen Wertewelt identifizieren. Politik findet auf keiner abstrakten Ebene statt, wir schaffen immer Bezüge. Dort, wo wir uns identifizieren können, dort streben wir hin. Viele Menschen gehen gar nicht mehr wählen, weil sie sich weder dort noch da wiedererkennen. Je mehr "rechte" Sprache Sie als Sozialdemokrat verwenden, desto mehr Menschen treiben Sie ins rechte Lager. Das Original ist immer besser. Insofern ist diese Strategie komplett falsch und führt zu sehr viel politischem Schaden. Wenn Sie nach rechts gehen, dann treiben Sie die Menschen vor sich her – noch weiter nach rechts.

derStandard.at: Bitte beurteilen Sie die folgenden drei Slogans: "Wir wollen einen fairen Hochschulzugang – sozial, gerecht und offen" (Grüne), "Euro-Schutzschirm stärken – Verschuldung unter Kontrolle halten" (SPÖ) und "Herr im eigenen Haus bleiben" (FPÖ). Welcher "zieht" am besten?

Wehling: Der dritte Slogan spricht als einziger ganz klar Werte an und ist insofern aus Sicht der FPÖ fantastisch gelungen. Die Wertewelt wird jedem Leser des Plakats sofort klar: Der Mann ist absolute Autoritätsfigur, Fürsorge findet für den inneren Kreis statt – in diesem Fall als Metapher von der Nation als Familie. Ein klarer konservativer Bezugsrahmen. Das ist Kommunikation auf Basis von Werten. Zu sagen, ich bin für Offenheit und Fairness, für einen starken Euro-Schutzschirm – das ist unklar, was Werte betrifft, damit lässt man den Zuhörer alleine. Außerdem: Was ist fair, was ist gerecht, was ist sozial? Das sind abstrakte Begriffe. Komplett sinnentleert. Jede Partei ist in ihrem Sinne sozial.

derStandard.at: Wie könnte man es besser formulieren?

Wehling: Man muss begreifbar machen, dass man sich als solidarische Gemeinschaft zum Wohle aller so organisiert hat, dass die Freiheit aller geschützt ist. Diese Freiheit bedeutet Schutz vor Schaden ebenso wie den geteilten Zugang zu freiheitsfördernden Grundstrukturen, also zu Schulen, zu Straßen und Brücken, und so weiter.

derStandard.at: "Freiheitsfördernde Grundstruktur" – das passt auf kein Wahlplakat.

Wehling: Das mag sein. Und Sie haben im Laufe unseres Gesprächs sicher gemerkt, dass meine Darstellung progressiver Werte noch recht lang ist. Das liegt daran, dass ein Großteil der politischen Schlagwörter der heutigen Zeit – Kampf gegen den Terror, Steuerlast und dergleichen – von konservativen Werten geprägt ist. Es gibt wenige Schlagwörter, die politische Realitäten aus progressiver Sicht begreifbar machen.

derStandard.at: Sie meinen, progressive Werte seien sozusagen "verschüttet" und müssten erst wieder ausgegraben werden?

Wehling: Ja. Es ist eine Rückbesinnung. Und Österreich ist ja ein stark progressiv geprägtes Land. Ich lebe in den USA, einige meiner Freunde waren seit Jahren bei keinem Arzt, weil sie sich keine Krankenversicherung einkaufen können. Kämen diese US-amerikanischen Freunde nach Österreich, würden sie sagen: "Meine Güte, was seid ihr hier alle solidarisch miteinander, wie ihr euch umeinander kümmert!" Die sozialdemokratischen Gruppen hier im Land sollten sich bewusst machen, dass die Strukturen, in denen sie leben, von ihnen und ihren Vorgängern geschaffen wurden. Dass vieles von dem, was sie täglich selbstverständlich nutzen, gemeinschaftlich aufgebaut wurde. Dass sie als in Österreich lebende Menschen eben nicht darüber nachdenken müssen, ob das Leitungswasser verschmutzt ist, wenn sie morgens einen Tee kochen.

derStandard.at: Sie sagen, dass politische Aussagen sich im Gehirn festsetzen. Wenn ich beispielsweise nur oft genug die Begriffe "Ausländer" und "kriminell" zusammen höre, dann brennt sich diese Verknüpfung quasi in mein Hirn ein. Wie lässt sie sich auflösen?

Wehling: Die Verknüpfung bleibt bestehen, sie lässt sich nicht auflösen. Alles, was einmal neuronal "gelernt" ist, bleibt bestehen. Aber: Man hat die Chance, neue Verknüpfungen als Denkalternative zu schaffen. Und das geht über Sprache.

derStandard.at: Wie sähe so eine Denkalternative am Beispiel der "kriminellen Ausländer" aus?

Wehling: Eine Gesellschaft muss jeden Tag vielfältige Aufgaben meistern. Da gibt es vielfältige Rollen, die besetzt werden müssen. Und dafür braucht es Menschen unterschiedlichen Backgrounds, Menschen mit unterschiedlichen Wertevorstellungen – all das braucht eine Gemeinschaft, um stark zu bleiben. Vielfalt stärkt die Gesellschaft. (derStandard.at, 9.2.2012)