"Ich weiß noch, wie mich als Richteramtsanwärter die weinenden jungen Mütter beeinflusst haben": Eckart Ratz.

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Eckart Ratz ist seit Jahresbeginn neuer Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH). Im Gespräch mit derStandard.at erklärt er, wie er sein Amt anlegen will.

derStandard.at: Sie orten in der Justiz "eine Handvoll Richter, die Sorgen bereiten". Können Sie Beispiele nennen?

Eckart Ratz: Als OGH-Richter sehe ich, dass von den vielen Richtern in der ersten Instanz immer dieselben wenigen Richter ständig negativ auffallen. Weil sie es handwerklich nicht auf die Reihe kriegen. Sie nehmen einfach ihre Akten und tun irgendetwas, haben keine Struktur, schreiben Sätze, die nicht zum Punkt kommen. Solche Menschen gibt es natürlich in jeder Berufsgruppe – bei den Richtern sind es sogar auffällig wenige, die die Anforderungen nicht erfüllen.

derStandard.at: Aber Richter sind unabhängig und unversetzbar. Wie gehen Sie als Vorgesetzter damit um, wenn jemand schlechte Leistung erbringt?

Ratz: Man darf nichts tun, was auch nur den Anschein einer Weisung hat. Aber im Gerichtsorganisationsgesetz steht, der OGH hat die Möglichkeit, Mängel, die er bei seinen Entscheidungen wahrnimmt, mitzuteilen. Diese Norm muss man ausnützen. Man kann dem Richter eine Fortbildung ans Herz legen. Wenn er es nicht macht, ist das ein Verstoß gegen die Standesvorschrift - dann muss der Präsident eine Disziplinaranzeige erstatten.

derStandard.at: Welche Verfahren haben Sie als unstrukturiert wahrgenommen – denken Sie da zum Beispiel an den Tierschützerprozess?

Ratz: Die Richterin hatte den Tierschützerprozess anscheinend wirklich nicht im Griff. Ich spreche nicht von der Endentscheidung, sondern vom Verfahren, das war schlicht unwürdig. Dass man in der Verhandlung isst und trinkt, wie am Jahrmarkt. Dass da eine Stunde lang ein Befangenheitsantrag vorgelesen wird: Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, war das eine einstündige Herabwürdigung - und die Richterin hört sich das an. Das habe ich als Richter doch abzustellen. Dass das Verfassen des Urteils neun Monate gedauert hat, ist nicht normal und auch verboten. Ich kann mir das mit rechtskonformem Verhalten nicht erklären. Im Gesetz ist von einer Ein-Monats-Frist die Rede.

derStandard.at: Die Justizministerin ortet ein schwindendes Vertrauen in die Justiz. Viele Menschen sind der Meinung, dass Angeklagte mit ausreichend Geld und Einfluss es "sich richten" könnten. Stimmt das?

Ratz: Wenn man eine Klage formulieren will, dann ist dafür zweifellos Fachwissen erforderlich, und insofern gilt: je besser der Anwalt, desto größer die Chancen. Das Prozessrecht muss also einen möglichst guten sozialen Ausgleich schaffen, und bei uns funktioniert das im Vergleich zum angelsächsischen Raum sehr gut. Die völlige Gleichheit mag schwer erreichbar sein. Aber ist es wirklich so, dass ein mutmaßlicher Täter mit einem teuren Anwalt ein wesentlich anderes Ergebnis erzielen wird als ein mutmaßlicher Täter mit einem schlechten Anwalt? Das würde ich in Abrede stellen. Vielleicht dauert das Verfahren unterschiedlich lange. Aber bei einem guten Richter ist das Ergebnis dasselbe.

derStandard.at: Wodurch lassen Sie sich als Richter beeinflussen?

Ratz: Ich bin natürlich durch hunderte Dinge beeinflussbar, aber ich bin geschult. Ich habe vor 30 Jahren einen Richter gekannt, der gesagt hat: "Wenn ein Angeklagter frech ist, kriegt er eine höhere Strafe." Das finde ich unmöglich. Ich weiß noch, wie mich als Richteramtsanwärter am Bezirksgericht die weinenden jungen Mütter beeinflusst haben. Und dann kam der Vater, und irgendwie war es dann doch wieder anders. Das muss man erst lernen – dass es wirklich wichtig ist, die andere Seite zu hören. Aber natürlich kann es auch sein, dass man dann in die Gegenrichtung geht und sagt, die jungen Frauen dürfen mich möglichst wenig beeinflussen, und dann bin ich vielleicht strenger. Auch das darf nicht passieren.

derStandard.at: StaatsanwältInnen sind weisungsgebunden, ihre Beeinflussbarkeit ist systemimmanent. Wie nehmen Sie das wahr?

Ratz: Ich kenne viele Staatsanwälte, und ich muss sagen, aus meiner Erfahrung agieren sie völlig unabhängig. Die oberste Weisungsspitze macht seit 30 Jahren von ihrem Recht, Einfluss zu nehmen, keinen Gebrauch.

derStandard.at: Man hört, als Staatsanwalt weiß man oftmals auch ohne Weisung, was erwünscht und unerwünscht ist.

Ratz: Kann sein, dass Sie das hören, aber ich verstünde es nicht. Kein Staatsanwalt wird in seiner Karriere dadurch behindert, dass er eine sachliche Entscheidung getroffen hat. Behindert wird man, wenn man faul ist, sich nicht fortbildet, keine eigene Meinung vertritt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein höherer Staatsanwalt Interesse an Lemmingen hat.

derStandard.at: In Österreich gibt es 83 Bezirke, aber 141 Bezirksgerichte. Sind die wirklich alle notwendig?

Ratz: Für mich war das ein Kulturschock, als ich nach Wien gekommen bin und ständig Rufe nach mehr Zentralisierung gehört habe – weil die kleinen Verwaltungseinheiten in Vorarlberg so erstklassig laufen. Das sind kleine Strukturen, da redet man miteinander. Alles, was überzentralisiert ist, vernichtet die Entwicklung im Kleinen. Die Leute sind dann demotiviert, sie können ja nichts mehr einbringen. Wenn ich aus einem Landstrich die Intellektualität abziehe, dann ...

derStandard.at: Sind Bezirksgerichte der Hort der Intellektualität?

Ratz: Nein, aber das sind genau gleich gescheite Leute wie bei den anderen Gerichten. Glauben Sie wirklich, dass der Gerichtsvorsteher am Bezirksgericht Bezau weniger gescheit ist als ein Richter an einem übergeordneten Gericht?

derStandard.at: Braucht es sieben Bezirksgerichte in Vorarlberg? Ist es nicht zumutbar, für eine Familienrechtssache eine Dreiviertelstunde zu fahren?

Ratz: Es geht um das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit. Wenn ich nie einen Richter in Fleisch und Blut gesehen habe, dann bin ich angewiesen auf Zeitungen, die mir das schnell, schnell berichten. Und dann passiert irgendwo in Österreich ein Skandal, dann gibt es einen Richter, der Kinderpornografie aus dem Internet herunterlädt, und schon sind für unkritische Leser alle Richter so.

derStandard.at: Amtsträger als Vertrauensstifter in den Regionen – reicht das als Legitimation einer teuren Struktur?

Ratz: Wenn ich das Gymnasium in Egg im Bregenzerwald abreiße und nach Bregenz verlege, dann werden die Lehrer nach Bregenz ziehen, und dann gibt es in Egg niemanden mehr, mit dem man über Physik und Mathematik reden kann. Unterschätzen Sie das nicht. Man kann natürlich alles ausdünnen – aber irgendwann ist es zu spät und der Prozess ist nicht umkehrbar. Die Richtervereinigung sagt, ungefähr drei Richter sollte ein vernünftiges Bezirksgericht schon haben, das würde ich auch befürworten. Im Einzelfall können es auch zwei sein, das kommt darauf an, wie disloziert das Gericht ist. In Wien, wo ein paar Straßen weiter gleich das nächste Gericht ist, brauche ich sicher nicht drei Richter.

derStandard.at: Soll die Staatsanwaltschaft mehr über die Medien kommunizieren?

Ratz: Es ist Aufgabe der Medien, den Public Watchdog zu spielen. Es wäre gut, diesen Wachhund etwas schärfer zu machen. Schärfer kann er aber nur sein, wenn er mit seriöser Information gefüttert wird und alle Seiten hört, nicht nur die des Opfers oder des Beschuldigten.

derStandard.at: In der Causa Karl-Heinz Grassers hat man nicht gerade den Eindruck, dass die Öffentlichkeit der Argumentation des Grasser-Anwalts folgen würde. Allein schon die im Raum stehende Anklage prägt die öffentliche Meinung.

Ratz: Ich will nicht auf das Grasser-Verfahren eingehen. Aber in vielen Fällen ist es so, dass ein Angeklagter oder ein Opfer ganz laut schreit, und die Staatsanwaltschaft kann bestimmte Dinge nicht ins rechte Licht rücken. Derzeit steht ja im Gesetz, Staatsanwälte sind strikt zur Geheimhaltung verpflichtet.

derStandard.at: Wie weit soll die Freiheit der Staatsanwälte gehen? Sollen sie die Medien über bevorstehende Hausdurchsuchungen informieren können?

Ratz: Man muss ja nicht sagen: "Heute wird eine Hausdurchsuchung stattfinden." Aber man könnte zum Beispiel sagen: "Gestern hat es eine gegeben." Wie weit die Information gehen soll, ist eine Sache politischer Meinungsbildung. Das sollte der Gesetzgeber möglichst genau vorgeben.

derStandard.at: Sie werden im OGH einen eigenen Fachsenat für Korruption gründen. Was werden die Aufgaben sein?

Ratz: Der Fachsenat soll versuchen, das dogmatisch noch zu wenig beackerte Feld der Amtsdelikte in ein System zu bringen. Er soll für den Amtsträger leichter vorhersehbar machen, was sicher verboten und was sicher erlaubt ist. Vieles ist da ungeklärt.

derStandard.at: Korruption "passiert" den Beteiligten also, ohne dass sie es merken?

Ratz: Jeder sollte aufgrund der Gesetze so handeln können, dass es später zu keinem Prozess kommt – das ist der Sinn von Gesetzen. Und Fakt ist, dass es Amtsträger gibt, die nicht wissen, was Sache ist. Was ist ein Geschenk, wo beginnt der Missbrauch der Amtsgewalt?

derStandard.at: Sie haben im Justizausschuss als Experte der ÖVP keine grundrechtlichen Bedenken gegen die Vorratsdatenspeicherung geäußert. Warum?

Ratz: Ich habe ja nur über den Bereich der Strafprozessordnung gesprochen. Zum Rest habe ich – da ich in diesem Bereich kein Experte bin – nichts gesagt. Und in dem Bereich, über den ich mich geäußert habe, gibt es keine Bedenken. Die Experten des Justizausschusses werden zwar jeweils von einer Partei nominiert, aber dann von allen Parteien einstimmig beschlossen. Ich war also nicht Experte der ÖVP, sondern des Justizausschusses.

derStandard.at: Unterm Strich bleibt die Information: "Eckart Ratz hat als ÖVP-Experte keine grundrechtlichen Bedenken geäußert." Stört Sie das nicht?

Ratz: Ich habe gesagt, was ich gesagt habe – und wenn die Medien das anders berichten, dann kann ich das nicht beeinflussen. Wir haben Gott sei Dank Medienfreiheit. Wenn ich nicht hingegangen wäre, dann wäre womöglich irgendjemand gekommen, der viele Dinge nicht sieht. Denn so furchtbar viele wirkliche Fachleute gibt es nicht. Es gibt nämlich zwei Arten von Grundrechtszugängen: Der eine Zugang ist der Schutz vor dem Staat, und der andere Zugang ist die Gewährleistungspflicht des Staates – der Staat hat nämlich zu gewährleisten, dass sich im Internet nicht nur Kriminelle tummeln. Dass nicht jeder seine Kinderpornografie herunterladen darf. Und dass der Persönlichkeitsschutz nicht über allem steht.

derStandard.at: Eingriffe in Grundrechte müssen durch ein dringendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein. Durch welches Interesse ist die Vorratsdatenspeicherung zu rechtfertigen? Das deutsche Max-Planck-Institut kommt zu dem Schluss, dass sie die Verbrechensaufklärung nicht verbessert. Wozu also dann?

Ratz: Meinen Sie wirklich, dass man das methodisch einwandfrei sagen kann? Ich würde der Aussage jedenfalls nicht blind vertrauen. Man sollte sich methodisch genau anschauen, wie sie zu dieser Aussage kommen.

derStandard.at: Sie glauben also, dass die Vorratsdatenspeicherung etwas bringt?

Ratz: Ich glaube das nicht, sondern ich höre das aus vielen Gesprächen mit Leuten, von denen ich annehme, dass sie anständige Leute sind. Außerdem gibt es ja verschiedene Grundrechtseingriffe. Wenn Sie die konkret anschauen, ist das oft viel entspannter zu sehen. Dass es unter den Beamten Verbrecher geben könnte, die ein Gesetz missbräuchlich anwenden, davon will ich ja nicht ausgehen.

derStandard.at: Kritisiert wird aber nicht, dass das Gesetz missbraucht werden könnte – sondern dass es so weit gefasst ist, dass schwere Grundrechtseingriffe vom Gesetz gedeckt sind.

Ratz: Dafür sind dann die Gerichte da. Man kann ein Gesetz sehr eng formulieren, dann gibt man dem potenziellen Verbrecher den Vorsprung. Oder man formuliert es weit, geht mit einem gewissen Vertrauen in staatliche Organe heran und sagt: Schauen wir uns das an. Wenn es zu weit geht, dann wird es auch Gerichte geben, die sagen, dass das zu weit geht.

derStandard.at: Im Tierschützerprozess hat dieses "Schauen, wie weit es geht" Millionen an Verfahrenskosten verschlungen. Ist das sinnvoll?

Ratz: Sie sprechen das Problem von Vorfelddelikten an, also die Frage, ob man sozial adäquates Verhalten bereits strafrechtlich fassen soll, wenn es die Gefahr in sich birgt, sich später als besonders sozial schädlich herauszustellen. Das ist eine sehr komplexe Frage. (Maria Sterkl, derStandard.at, 8.2.2012)