Ein Krokodil namens Dandy kennt nicht die Last der Vergangenheit: Miguel Gomes' Wettbewerbsbeitrag "Tabu" spielt souverän mit den Mitteln des Kinos und der (Kolonial-)Geschichte Portugals.

Foto: Berlinale

Einige besonders glamourbedürftige Medien klagen immer wieder, auf der Berlinale gäbe es zu wenige Stars. Davon konnte zumindest in den letzten Tagen keine Rede sein. Meryl Streep war da, um sich den Goldenen Bären für ihr Lebenswerk abzuholen und um für ihre Fähigkeit, Iron Lady Margaret Thatcher zu ähneln, gefeiert zu werden. Oscar-Preisträgerin Melissa Leo, die im US-Indie-Film Francine eine verschlossene Frau mit zu ausgeprägter Empathie für Tiere spielt, demonstrierte dagegen, wie man mit schnoddrigem Charme betören kann: "Sorry, I already took my boots off", rief sie aus den hinteren Kinoreihen als Entschuldigung dafür, weshalb sie nicht auf die Bühne kam.

Die Vielzahl an Charakterdarstellern in Billy Bob Thorntons Generationendrama Jayne Mansfield's Car dürfte wiederum der Grund dafür gewesen sein, weshalb dieser Film im Wettbewerb landete. Zwei Familien treffen darin im Alabama des Jahres 1969 aufeinander, um den Tod einer Angehörigen zu betrauern. Robert Duvall spielt das knorrig-chauvinistische Oberhaupt des Südstaaten-Clans, dessen Frau nach England ging und dort den distinguierten John Hurt heiratete.

Sanft übersteuerte Groteske

Konflikte brechen aber nicht unter den beiden Alten aus - es sind die Söhne (darunter Thornton als autistischer Auto-Freak), die mit ihren kriegsgegerbten Vätern im Widerstreit liegen. Jayne Mansfield's Car orientiert sich thematisch an Hollywood-Epen wie Vincente Minnellis Home from the Hill, will aber lieber sanft übersteuerte Groteske als Melodram sein. Die dramatischen Linien des Films verlieren mit den komischen Eskapaden (LSD-Missbrauch, Sex) an Kraft. Das Ergebnis ist dennoch ganz vergnüglich.

Im Modus eines "Thanksgiving-Films" erzählt Hans-Christian Schmid in Was bleibt von einer weiteren Familienzusammenkunft: Ein gemeinsames Wochenende führt zu schmerzhaften Konfrontationen. Bei Schmid ist es der vermeintliche "Neuanfang" der Eltern, der sich als Rohrkrepierer erweist - der Vater (Ernst Stötzner) setzt sich zur Ruhe, die Mutter (Corinna Harfouch) setzt ihre Anti-Depressiva ab. Doch die Zukunft der beiden ist dahin. In den Söhnen (Lars Eidinger und Sebastian Zimmer) findet der Konflikt Echo, Kritik und Erweiterung.

Besonders schön ist vor allem eine Szene, kurz bevor das sukzessive Auseinanderfallen beginnt, in der die Familie gemeinsam Du lässt dich gehn von Charles Aznavour singt - ein Moment, in dem der Film aus seiner ein wenig statischen, nüchternen Form ausbricht und eine andere Phrasierung sucht.

Das Aufbrechen gängiger Erzählformen bei gleichzeitiger Wahrung aller stilistischen Möglichkeiten ist bisher nur einem Film im Wettbewerb - in jeder Hinsicht souverän - gelungen: Tabu, dem in Schwarzweiß gedrehten Film des Portugiesen Miguel Gomes. Schon der Prolog, der einen melancholischen Abenteurer im Busch von Afrika zeigt, der einfach nur vergessen will, ist von betörender Widersprüchlichkeit.

Gomes, der seit seinem letzten Film Our Beloved Month of August als einer der originellsten Erzähler gilt, setzt danach zwei Teile in Beziehung, das "verlorene Paradies" der Gegenwart Lissabons mit dem "Paradies" des (kolonialisierten) Mozambique der 1960er- und 1970er-Jahre. Die Verbindungen sind zahlreich, bei erster Betrachtung gar nicht alle auszumachen.

Kreist der erste Abschnitt um einer ältere, gläubige Frau und ihre exzentrische Nachbarin Aurora, die sich von ihrer schwarzen Haushälterin unterdrückt glaubt, so wird der zweite zur Ode an eine unmögliche Liebe. Im Stil eines dialoglosen Films (Geräusche, Voice-over und Musik sind zu hören) erfahren wir von der Leidenschaft der jungen, verheirateten Aurora zu einem anderen Mann.

Großartig an Tabu ist nicht nur, wie Pathos und Humor gleichsam nebenher existieren, sondern auch, wie der Film über das Individuelle ständig hinausreicht: Mit dem Bilderfundus des ethnografischen und Abenteuerfilms (samt Krokodil namens Dandy) erzählt der Film von kolonialen Prägungen, von historischen Umbrüchen und von der Last der Vergangenheit. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 16. Februar 2012)